„Wo sind Halles breite Radwege?“

Der frühere Bundesvorsitzende der Grünen Cem Özdemir spricht im StäZ-Interview über das beschwerliche Umsteigen vom ICE auf das Fahrrad in Halle, die AfD, den Strukturwandel in der Kohleregion und grüne Höhenflüge.

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Cem Özdemir beim StäZ-Interview im Mitteldeutschen Multimediazentrum. (Fotos: Jan Möbius)

Halle/StäZ – Cem Özdemir kommt mit dem E‑Fahrrad zum Interview. Der Akku, sagt er gleich als erstes, stamme aus seinem Heimatbundesland Baden-Württemberg, von Bosch. Der frühere langjährige Bundesvorsitzende der Grünen ist heute fast nur noch normaler Bundestagsabgeordneter und schwäbischer Politpromi. Am Montag ist er zu Besuch beim Merseburger Grünen-Landtagsabgeordneten Sebastian Striegel, der auch zwei Stationen in Halle ins Programm geschoben hat: Einen Besuch in der neuen Brauerei der Lebenshilfe am Böllberger Weg und den Redaktionsbesuch bei der Städtischen Zeitung im Mitteldeutschen Multimediazentrum in der Mansfelder Straße. Özdemir ist trotz des straffen Zeitplans tiefenentspannt und stellt sich eine Dreiviertelstunde lang den Fragen von StäZ-Redakteur Felix Knothe. Es wird ein kleiner Ritt durch den politischen Gemüsegarten. Vom Zustand der lokalen Medienlandschaft – Özdemir hat früher auch mal als Journalist gearbeitet und weiß als selbsterklärtes „Provinz-Ei“ gute Lokalberichterstattung zu schätzen – über die AfD, zu deren härtesten Kritikern Özdemir gehört, bis zum wieder einmal anstehenden Strukturwandel in Mitteldeutschland angesichts des Kohleausstiegs reicht die Palette. Beim Thema Mobilität in Großstädten gibt es von Özdemir kurz ein bisschen Kritik an Halle: So richtig radfahrerfreundlich findet Özdemir die Stadt noch nicht. Und auch darum geht es: Den Höhenflug der Grünen nach dem Ende seiner Zeit als Vorsitzender. Derzeit ist die Partei obenauf in den Umfragen. Am Schluss dann noch um die Frage, ob denn Özdemir nicht selbst noch politisch etwas mehr werden möchte: Ministerpräsident in Baden-Württemberg zum Beispiel. Eine Option, die offenbar offen ist. Ein Dementi zumindest gibt es nicht.[ds_preview]

Herr Özdemir, schön, dass Sie die Städtische Zeitung besuchen. Sie waren, so ist zu lesen, selbst auch einmal Journalist?
Cem Özdemir: So ein richtiger, ausgebildeter Journalist wäre übertrieben. Ich war freier Mitarbeiter bei zwei Lokalzeitungen und bei einem Lokalradio. Zuerst war ich im Lokalteil der Südwest Presse, einer großen Abozeitung in Baden-Württemberg. Ich habe von Gemeinderatssitzungen, von Schützenvereinen oder den Hasenzüchtern berichtet. Querbeet, auch über Grüne Bundestagsabgeordnete, die Station im Lokalen gemacht haben. Später hat mich dann der Reutlinger Generalanzeiger abgeworben.

Abgeworben? Waren Sie so gut?
Özdemir: Naja, sie haben einfach mehr bezahlt, dort gab es Zeit– statt Zeilenhonorar.

Heute haben wir eine Krise der Medien. Auch in Halle ist sie zu spüren. Welche Rolle können Lokalzeitungen, wie die Städtische Zeitung auch eine ist, in Zukunft noch spielen?
Özdemir: Ich versuche eigentlich immer, wenn ich im Land unterwegs bin, auch zur Lokalzeitung zu gehen. Es gibt in Berlin oft die Fehlannahme, dass man, wenn man in der FAZ oder der Süddeutschen erschienen ist, die meisten Menschen in Deutschland erreicht hat. Da befinden sich viele in der Hauptstadt wie unter einer Käseglocke. Natürlich braucht es das große Bild, die Einordnung ins Weltgeschehen, das Aufzeigen von Zusammenhängen. Aber die Menschen sind neugierig, was vor ihrer Haustür passiert, denn das betrifft sie unmittelbar. Die Meinungsbildung findet zu einem nicht unerheblichen Teil über Lokalzeitungen und Lokalradios statt, natürlich neben dem, was im Netz passiert. Als jemand, der selbst ursprünglich ein Provinz-Ei ist, habe ich das nicht vergessen.

„Demokratie gibt es nicht umsonst, und Journalismus zählt dazu.“

Wie ist die Situation der Lokalzeitungen aus ihrer Sicht?
Özdemir: Die Frage passt zu meiner vorherigen Station hier in Halle, der kleinen Brauerei der Lebenshilfe in Böllberg. Die Botschaft ist: Regionalisierung hilft. Einige der großen Brauereien befinden sich in der Krise, und so ist das auch in der Presselandschaft. Wer jedoch einen Mehrwert bieten kann durch den Lokalbezug, hat dadurch einen Wettbewerbsvorteil. Wichtig ist, dass man auch jungen Menschen gegenüber dafür wirbt, den Journalismus wertzuschätzen. Die Umsonst-Kultur, die es seit Jahren im Netz gibt, muss ein Ende haben. Denn guter Journalismus kostet Geld. Man sieht ja an der Brexit-Abstimmung in Großbritannien oder an der Wahl von Donald Trump in den USA, was passiert, wenn einzelne Medien die Meinungsbildung dominieren, wie Fox-News und die rechten Talk-Radios in den USA oder die auch ins Murdoch-Imperium gehörenden Medien in Großbritannien. Und wenn dann noch jemand von außerhalb, wie in dem Fall Putin, versucht, die Meinungsbildung über das Netz zu beeinflussen, dann kann es zappenduster werden. Wir brauchen eine Vielfalt an Medien, wir brauchen unabhängigen Journalismus, der exakt recherchiert und hinterfragt. Das ist von den Leserinnen und Lesern auch gut angelegtes Geld für die Demokratie. Demokratie gibt es nicht umsonst, und Journalismus zählt dazu.

Von unserem Geschäft zu Ihrem Geschäft: Sie sind 2018 ausgezeichnet worden für die Rede des Jahres, die Sie im Bundestag gehalten haben. Es ging darin um den Fall Deniz Yücel, also auch um Journalismus. Vor allem aber ging es gegen die AfD. Ist die AfD eine demokratische Partei?
Özdemir: Die AfD ist eine demokratisch gewählte Partei mit anti-demokratisch gesinnten Funktionären. In ihrer Gründungsphase war die AfD mit Hans-Olaf Henkel und Bernd Lucke eine Partei von überwiegend europakritischen und ‑skeptischen Professoren, mit etwas verschrobenen Ansichten. Aber das darf man ja. Das gehört zum demokratischen Meinungsspektrum. Die Partei hat sich jedoch in mehreren Stufen radikalisiert. Als Frauke Petry kam, war Lucke plötzlich nicht mehr rechts genug. Und heute ist Petry nicht mehr rechts genug. Der Verfassungsschutz schaut sich inzwischen Teilorganisationen an. Da gibt es jetzt vielleicht eine kosmetische Bereinigung bei der AfD. Aber man darf sich nichts vormachen: Die AfD von heute ist die Partei der Höckes und Gaulands. Das ist eine Partei von Leuten, die unsere Demokratie und unser großartiges Grundgesetz ablehnen, die offensichtlich lieber eine Herrschaft à la Putin, also ein autoritäres Regime errichten wollen, wo andere Meinungen nicht toleriert werden und die Pressevielfalt bekämpft wird.

„Die demokratischen Parteien haben ihren Job nicht gut gemacht.“

Das haben sie in ihrer Rede damals ja deutlich gemacht. Ist es der richtige Weg, so gegen die AfD zu polarisieren?
Özdemir: Davon bin ich überzeugt. Dabei gilt für mich aber immer: „Fair im Umgang, hart in der Sache“. Als Politiker und auch als Bürger empfinde ich es als meine Pflicht, dieses Land zu verteidigen gegen Angriffe von innen wie von außen. Und derzeit sitzen Leute in unseren Parlamenten, die unsere Demokratie und unsere offene Gesellschaft von innen zersetzen und kaputtmachen wollen. Das müssen wir verhindern. Ich mache aber einen wichtigen Unterschied zwischen Wählern und Funktionären der AfD. Bei den Funktionären gibt es Leute, die den Nationalsozialismus und den Holocaust relativieren. Da hört die Meinungsvielfalt auf. Wer das macht, steht auf der anderen Seite der Barrikade. Bei den Wählern hingegen gibt es aber viele, die müssten ihr Kreuz nicht bei der AfD machen. Die sind da gelandet, weil die demokratischen Parteien ihren Job nicht gut gemacht haben.

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