„Wo sind Halles breite Radwege?“

Der frühere Bundesvorsitzende der Grünen Cem Özdemir spricht im StäZ-Interview über das beschwerliche Umsteigen vom ICE auf das Fahrrad in Halle, die AfD, den Strukturwandel in der Kohleregion und grüne Höhenflüge.

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„JEde Tonne CO2, die in die Atmosphäre gelangt, bleibt da erst einmal“

Wir erleben in Deutschland, in Europa, auch in Halle einen Teil der Jugend, der das alles nicht schnell genug geht. Sie diskutieren in Merseburg die These, ob wir angesichts des Klimawandels eine radikale Bürgerlichkeit brauchen.
Özdemir: Es gibt da ja immer wieder die philosophische Frage, ob die Demokratie überhaupt in der Lage ist, mit so einer Menschheitsaufgabe wie der Klimakrise umzugehen. Ich sage: Die autoritären Regime können das jedenfalls nicht besser, und die Demonstrationen der Schüler zeigen ja, dass die Demokratie sich aufmacht. Sie ist die beste Staatsform, die wir haben, weil sie auf die Menschen setzt und nicht an ihnen vorbei Politik macht. Aber ja: Die Uhr tickt, und jede Tonne CO2, die in die Atmosphäre gelangt, bleibt da erst einmal. Deswegen ist natürlich Eile geboten. Deshalb ist auch weniger das Jahr wichtig, wann das letzte Kohlekraftwerk abgeschaltet wird. Viel wichtiger ist, dass wir jetzt anfangen, Kraftwerksblöcke abzuschalten. Unsere Wirtschaft ist so stark, dass wir den Schalter umlegen können und dass es dann eher schneller als langsamer vorangehen wird.

„Wir dürfen den Leuten nicht enteilen.“

Sind die Grünen noch radikal genug?
Özdemir: Die Frage ist doch vielmehr: Sind die Herausforderungen von Klimakrise über Rechtspopulismus zu Verwerfungen bei den internationalen Beziehungen zu groß, um darauf eine Antwort zu finden? Ich bin Optimist und denke, dass dem nicht so ist. Gleichzeitig warne ich aber davor, den Bogen zu überspannen. Das war in der Vergangenheit zum Beispiel beim 5‑Mark-Beschluss der Fall. Den haben wir damals sogar in Sachsen-Anhalt gefasst. Das war ein sinnvolles Anliegen, nämlich dass die Produkte und Rohstoffe die ökologische Wahrheit sagen müssen und es keine Zechprellerei zu Lasten der Umwelt, der Entwicklungsländer oder künftiger Generationen geben darf. Trotzdem ist uns nach dem Beschluss plötzlich keiner mehr gefolgt. Wir dürfen den Leuten also nicht enteilen. Die gute Nachricht ist: Das Bewusstsein, dass wir etwas gegen die Klimakrise tun müssen, wächst.

Woran machen Sie das fest?
Özdemir: Immer mehr Leute wollen zum Beispiel umsteigen vom Auto auf die Bahn. Es ist doch momentan eher so, dass wir mit dem Angebot nicht hinterherkommen. Wir haben kein Nachfrageproblem nach ökologischen Lösungen, wir haben ein Angebotsproblem. Die Radwege fehlen, nicht die Radfahrer. Fragen des Lebensstils sind zwar wichtig. Aber die kann man gerne im Verein, der Bürgerinitiative oder der Kirchengemeinde diskutieren. Mein Job als Politiker ist, den Rahmen zu setzen. Ich muss Anreize zum Klimaschutz setzen, zum Beispiel über eine CO2-Bepreisung. Welches Produkt Sie als Verbraucher nachher kaufen, das ist Ihre Angelegenheit.

Sie sind Bundespolitiker, im Mai ist hier in Halle Kommunalwahl. Was können denn mittlere Großstädte wie Halle aus Ihrer Sicht beitragen zur Verkehrswende, die Sie fordern?
Özdemir: Sie haben hier viele junge Leute. Für sie ist nicht mehr das Auto das Statussymbol. Für sie ist wichtig, dass sie sich mit dem Verkehrsmittel ihrer Wahl bequem und sauber, bezahlbar und pünktlich von A nach B bewegen können. Das ist nicht mehr zwingend das Auto. Also wundere ich mich ein bisschen über Halle: Ich bin am Bahnhof angekommen. Im Gegensatz zu vielen Städten verfügt Halle ja zum Glück über eine Anbindung ans ICE-Netz der Bahn. Aber man kann am Bahnhof offenbar nicht sofort aufs Fahrrad umsteigen. Ich habe da natürlich als Verkehrsausschussvorsitzender einen etwas selektiven Blick, aber das ist mir als erstes aufgefallen: Wo ist das Fahrradparkhaus am Hauptbahnhof, wo die sicheren, breiten Radwege?

Muss also die Stadtplanung Radverkehr noch höher gewichten?
Özdemir: Natürlich. Aber nicht nur das: Auch durch die Senkung der ÖPNV-Preise und einen guten Takt von Bus und Bahn lässt sich auf kommunaler Ebene viel Verkehr vermeiden und damit das Klima schützen. Oder nehmen Sie die Mikromobilität, also die Hoverboards, die E‑Skateborads, vor allem aber die E‑Tretroller. Das sind tolle Teile. Ich gehe jede Wette ein, dass sie bald Kultstatus erreichen werden. Für die letzte Meile wird es super attraktiv werden: Sie kommen am Bahnhof an, klappen das Ding aus und fahren dann nach Hause oder zur Uni oder zum Arbeitsplatz. Es ist an der Politik, den Rahmen für solche Innovationen zu setzen. Denn die Frage ist doch, wo man mit diesen Kleinstfahrzeugen fahren darf. Auf der Straße? Auf dem nur teils vorhandenen Fahrradweg? Auf dem Fußgängerweg? Punktum: Wir werden nicht drumherum kommen, den Platz in der Stadt neu aufzuteilen.

Wie? In Halle würden die Autofahrer sofort protestieren. Sie fühlen sich derzeit schon oft diskriminiert.
Özdemir: Das Auto hat weiter seinen Platz. Aber die Zeit, in der erst das Auto kommt, dann die Häuser und dann irgendwann der Mensch, ist vorbei. In Zukunft steht der Mensch im Mittelpunkt und kann sich das Verkehrsmittel aussuchen. Das ist nicht mehr nur das Auto. Wir müssen also die Diskriminierung der anderen Verkehrsmittel beenden, denn sie sind genauso wichtig.

„Das Amt kommt zum Manne oder zur Frau und nicht umgekehrt.“

Das ist vermutlich ein langer Weg. Einen solchen haben auch die Grünen zurückgelegt. Sie sind derzeit umfragebasiert im Höhenflug, auch im Osten. Worauf führen Sie das zurück?
Özdemir: Da gibt es verschiedene Faktoren. Wir haben uns als Partei schon seit Jahren breiter aufgestellt. Der Bundesvorstand macht einen guten Job. Und während der Jamaika-Verhandlungen haben die Menschen gemerkt, dass wir vor der Verantwortung nicht weglaufen, wie andere. Dass wir also eine ernsthafte Partei sind, ohne freilich zum Lachen in den Kohlenkeller zu gehen. Und die Zeit ist ernst: Wir haben die Klimakrise, wir haben die Bedrohung der liberalen Demokratien. Da braucht es eine Partei, die bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Wir gehen da auch nicht ideologisch heran. Siehe Sachsen-Anhalt: Die Grünen hier haben sicherlich nicht davon geträumt, mit der CDU und der SPD in eine Koalition zu gehen, aber sie wussten: erst das Land, dann die Partei, dann die Personen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass uns die Konkurrenz hilft. Das Bild, das die große Koalition in Berlin abgibt, ist doch ein Bild des Jammers.

Wie sehr schmerzen die Kompromisse, die man in solchen Konstellationen machen muss?
Özdemir: Keine Frage, mancher Kompromiss tut uns weh. Aber die Alternative dazu ist, dass man lediglich von der Seitenlinie aus zuschaut. Unsere Haltung ist aber nicht die des Nörglers und Motzers. Wir Grüne wollen etwas bewegen, auch in Sachsen-Anhalt. Das ist ein schönes Bundesland, und es ist für die Grünen eine Ehre, für dieses Bundesland Verantwortung übernehmen zu dürfen.

Welche Ambitionen haben denn Sie persönlich? Sie waren zehn Jahre Vorsitzender der Grünen. Hier in Halle hat uns das Gerücht erreicht, Sie könnten sich vorstellen, Ministerpräsident in ihrem Heimatbundesland Baden-Württemberg zu werden? Was wird also noch aus Ihnen?
Özdemir: Ich bin doch schon etwas: Abgeordneter und Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur im Deutschen Bundestag. Das mag sich pathetisch anhören, aber ich vergesse nicht, wo ich herkomme. Ich komme aus einer schwäbischen Kleinstadt, meine Eltern sind in den Sechzigern als sogenannte Gastarbeiter eingewandert. Mir ist es in der Wiege nicht gesungen worden, dass ich mal Bundesvorsitzender einer deutschen Partei werde, dass ich mal Abgeordneter werde, dass ich mal in Koalitionsverhandlungen um das Schicksal dieses Landes mitverhandeln darf. In den Jamaika-Verhandlungen habe ich mich ein paar Mal gezwickt: Bin ich das jetzt? Hier? Das erklärt vielleicht auch, wie ich dort aufgetreten bin. Ich betrachte es also als Riesenprivileg, dass ich diesem Land als Abgeordneter dienen darf. Das mache ich mit aller Leidenschaft. Im Übrigen habe ich es immer mit Erwin Teufel gehalten: Das Amt kommt zum Manne oder zur Frau und nicht umgekehrt. Mit der Haltung habe auch ich immer Politik gemacht. Schauen wir also mal, was das Leben noch so mit sich bringt. Aber um Ihre Frage nicht offen zu lassen: Wir haben einen großartigen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg. Der macht das toll, und ich hoffe und werde alles dafür tun, dass er nochmal antritt.

Vielen Dank für das Gespräch.

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