Wie demütig wollen wir sein?

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StäZ-Kolumnist Arne Moritz, Foto: Simone Henninger

Essen, trinken, das schützende Dach über dem Kopf – sich denjenigen Quellen der Freude zuwenden, die leicht erreichbar sind und auf deren Genuss wir nicht verzichten können. Den anderen Freuden entsagen –  den verzichtbaren sowieso, und klugerweise auch denen, die wir ohnehin nie erreichen werden. Diese Weisungen des antiken Philosophen Epikur erscheinen seit Jahrhunderten als hilfreiche Übung auf dem Weg zu einem beruhigten Leben angesichts der Welt, wie sie ist, und angesichts der Menschen, wie sie sind.

Man versucht also, dem unheilbaren Irrsinn der Gegenwart, auf den ich später noch zu sprechen komme, zu entfliehen – und geht essen. Und wird sofort wieder vom ganzen Gewicht der Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins bedrückt: weil der Koch nicht kocht, und im strengen Sinn gar kein Koch ist, und weil das Essen nur in einem ganz weiten Sinn Essen ist.[ds_preview]

Der Kern des Problems nennt sich Convenience (engl. Annehmlichkeit, Bequemlichkeit) und besteht in industriellen Produkten, die in immer mehr Kantinen und Restaurants angewandt werden und an denen die handwerklichen Tätigkeiten des Kochens schon so weit vorweggenommen sind, dass die Zubereitungskraft alles nur noch irgendwie anwärmen, anrühren oder anbraten muss.

Convenience-Bratkartoffel (Foto: GeoTrinity [CC BY-SA 3.0], Wikimedia Commons)
Je flächendeckender sich dieses System der Nahrungszubereitung durchsetzt, desto weniger wird von den Verzehrenden noch bemerkt, welche geschmacklichen, optischen und sonstigen ästhetischen Qualitäten dem Essen dadurch verloren gehen. Durch die Kindergartenmahlzeit geprägt und durch die heimische Nutzung von Convenience-Produkten vollends konditioniert, fällt es also kaum noch auf: Eine Backofenkartoffel muss mitnichten ein pulverbeschichtetes rotbraunes Etwas mit einem gelben Stampf im Inneren sein, und eine Sauce Hollandaise ­– am 24.6. endet offiziell die Spargelsaison – sollte trotz ihres Namens eigentlich nicht wie geschmolzener Gouda aussehen und schmecken.

Mein gastronomischer Ausflug erscheint mir als Verrat an dem, was mir wichtig ist.

Viele werden also mit den Schultern zucken und sagen, „Mir schmeckts aber!“, da sie abgesehen von der Gewöhnung an derlei Ernährung ebenfalls schon in Kindergartentagen ihre Lektion darin gelernt haben, dass sich über Geschmack angeblich nicht streiten lässt. Wo liegt also das Problem?

Ein Problem besteht zunächst einmal wirklich nur für diejenigen, denen die eben erwähnten ästhetischen Genüsse gut zubereiteten Essens noch bekannt und zudem wichtig sind. Probleme bestehen ja generell immer nur innerhalb von Zusammenhängen, in denen etwas für jemanden von Bedeutung ist. Ich gehöre in diesem Fall zur immer kleiner werdenden Gruppe der Betroffenen. Aus meinem Nachdenken über diese Betroffenheit folgt allerdings einiges, was hoffentlich auch über den Kreis der verbliebenen Essensliebhaber hinaus von Belang ist.

Mein Hauptproblem beim Essen dieser Art ist nämlich gar nicht, dass es mir nicht schmeckt. Es besteht vielmehr in einem stets wiederkehrenden Bewusstsein der Selbstdemütigung, dass mich während dieser Art von Tätigkeit ereilt. Ich sitze zu Tisch und frage mich, wie wichtig mir eigentlich mein angeblich geliebtes Essen sein kann, wenn ich bereit bin, mich auf diese Art und Weise verköstigen zu lassen.

Mein gastronomischer Ausflug erscheint mir dann nicht mehr als berechtigte Bequemlichkeit, als angemessener Ausdruck der Erholung oder eines freudigen Anlasses, sondern vor allem als Verrat an dem, was mir wichtig ist. Ich erkenne mich, wenn ich so essen gehe, nicht mehr als Liebhaber des Essens wieder, der ich aber zu sein glaube, weil ich die Zubereitung der Speisen an jemanden abgebe, dem diese gar nichts zu bedeuten scheinen. Seine Faulheit beim Kochen, so erscheint es mir dann, muss ich mir mindestens gleichermaßen zurechnen lassen, denn nicht weniger faul als er beteilige ich mich an der Verachtung des kulinarischen Genusses, den ich angeblich wertschätze.

Unverzichtbar ist, dass man überhaupt über sich selbst und das eigene Handeln nachdenk.

Demut, schrieb der Zisterzienser-Mönch Bernhard von Clairveaux im 12. Jahrhundert, ist die Tugend, „durch die der Mensch in der richtigen Erkenntnis seines Wesens sich selbst gering erscheint“. Der Demütige hat erkannt, wie begrenzt er tatsächlich ist, und daraus ein angemessenes Urteil über seinen eigenen begrenzten Wert abgeleitet. Jedes mal, wenn ich essen gehe, erkenne ich, wie begrenzt offenbar meine Kräfte sind, an meinen hohen kulinarischen Idealen praktisch wirklich festzuhalten – das macht mich demütig, insofern ich mir aufgrund jener Erkenntnis weniger eigene Bedeutung zuschreibe.

Demütigungen sind etwas für Menschen, die soweit noch nicht sind. Meistens muss man von außen her gedemütigt werden – siehe etwa das dieser Tage vielfach zu beobachtende Beispiel vermeintlicher Fußballer von Weltrang (aller Nationen), denen erst im Spiel mit anderen adäquate Erkenntnisse und damit eine angemessen demütige Haltung zu ihrem fußballerischen Wert ermöglicht wird.

Die seltener vorkommenden Selbstdemütigungen gelangen zu entsprechenden Erkenntnissen über die eigene Begrenztheit und den begrenzten eigenen Wert jedoch ohne Beihilfe von außen. Unverzichtbar für diese Leistung ist offenkundig, dass man überhaupt über sich selbst und das eigene Handeln nachdenkt und es in Beziehung zu dem setzt, was einem wichtig ist.

Immanuel Kant hat in seinem berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ bekanntlich einen Zusammenhang hergestellt zwischen Faulheit und dem Verzicht darauf, selbst zu denken, und der Bereitschaft, sich bevormunden zu lassen. Aber das Nachdenken über sich selbst bildet umgekehrt auch eine Voraussetzung dafür, sich überhaupt als faul zu erkennen, sich entsprechend demütig gering zu schätzen und gegebenenfalls zu verändern. Da droht, leicht erkennbar, eine wechselseitige Blockade von Faulheit und Nachdenken über sich selbst. Wer nicht nachdenkt über sich, erkennt sich auch nicht als faul. Und umgekehrt: Wer faul ist, denkt nicht nach, auch nicht über sich selbst.

Es wäre ein Leichtes für den CSU-ler gewesen zu erkennen, wie begrenzt seine Liebe zum Recht zu sein scheint, wenn er nicht einmal bereit ist, über dieses in eine intellektuelle Auseinandersetzung einzutreten.

Gelegenheiten, diese Blockade zu überwinden, und über unsere eigene Begrenztheit vor dem Hintergrund unserer vermeintlichen Werte nachzudenken, hätten wir allerdings genug. Convenience setzt uns ja gegenüber dem, was uns vermeintlich wichtig ist, allenthalben zu potentiell Demütigen herab. Wie oft haben wir uns in den letzten Wochen, in denen eine entsprechende EU-Regulierung in Kraft trat, alle auf bequeme Weise mit irgendwelchen Datenschutzregelungen per Mausklick einverstanden erklärt, ohne irgendetwas davon überhaupt genauer zur Kenntnis zu nehmen? Diese Art des Wegklickens hätte jedes einzelne Mal Gelegenheit zum Nachdenken darüber geboten, wie unwichtig uns unser Einverständnis einerseits und der Schutz unserer Daten andererseits zu sein scheint, obwohl wir jederzeit das Gegenteil behaupten würden.

Wer kann aber überhaupt so über sich selbst nachdenken und über sein eigenes Tun und das, was ihm oder ihr wichtig ist?

Damit, wie versprochen, zurück zum unheilbaren Irrsinn der Gegenwart. Vor ein paar Tagen sah ich im Fernsehen eine der vielen Talkshows zu den Querelen zwischen CDU- und CSU-Politikern über den Umgang mit Migranten an deutschen Grenzen. Dort trat unter anderem ein jüngerer, aber bedeutender CSU-Politiker auf, der die von der CSU und anderen viel bemühte Formel vom Rechtsbruch an den deutschen Grenzen im Munde führte. Es gab aber auch einen jüngeren, offenbar juristisch nicht ganz inkompetenten Rechtswissenschaftler, der ganz plausible Gründe dafür anführte, das derzeit an den deutschen Grenzen gerade kein Recht gebrochen werde bzw. gerade erst dann, wenn man das tun würde, was der jüngere CSU-Politiker forderte.

Damit war noch nichts entscheiden, interessant war aber, dass der CSU-ler sich auf die damit anstehende Auseinandersetzung, was nun rechtens oder nicht rechtens sei, erst gar nicht einließ. Er schaltete hingegen sofort gewandt um auf das, was in Talkshows und überhaupt im Leben immer geht: ein trotziges Trotzdem und den „gesunden Menschenverstand“, der einem auch ohne alle Juristerei und „Gutachterstreit“ sage, dass er recht habe.

Welch günstige Gelegenheit zur Erlangung von Demut wäre dies gewesen! Es wäre genau da ja ein Leichtes für den CSUler gewesen zu erkennen, wie begrenzt seine zunächst hochgehaltene Liebe zum Recht zu sein scheint, wenn er nicht einmal bereit ist, über dieses in eine intellektuelle Auseinandersetzung einzutreten, sondern dem Recht schon dann kühl den Rücken kehrt, wenn es ungefügig für die eigenen Zwecke zu werden droht.

Nur wer sich selbst soviel Bedeutung beimisst, dass ihn vor allem anderen das Nachdenken über das eigene Tun im Verhältnis zu den vermeintlichen eigenen Werten interessiert, ist also zu der Selbstdemütigung in der Lage, um die es hier geht. Sorge um sich selbst, wie Platon das genannt hat, als etwas zu verstehen, was von Bedeutung ist, bildet demnach die Voraussetzung für jenes Nachdenken, welches die eigene Begrenztheit erschließt und zur Demut führt. Wer hingegen allem anderen mehr Wert als dieser Sorge um sich selbst beimisst, etwa der Überlegenheit im Talkshowrededuell oder in anstehenden Wahlen, dem bleibt der erkenntnisreiche Weg der Selbstdemütigung wohl vorerst verschlossen. Immerhin bleibt ihm jedoch die Chance auf den demütigenden Zuspruch von außen, wie man ihn hier exemplarisch lesen kann…

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Dirk Dirot
5 Jahre her

Man kann es kürzer fassen, aber ich stimme in allen Punkten zu. Convenience ist vor allem eine Entmündigung, die wir uns Tag für Tag gefallen lassen. Wir leben in dunklen Zeiten, da schon die Gesellschaft janusköpfig daher kommt: natürlich wollen wir es nachhaltig und öko- aber „Essen“ aus Assietten wird immer mehr Einsatz finden – nicht nur im privaten Umfeld. Aber wir sind ja auch ein Volk, das zurück zur Natur will…nur nicht zu Fuß und möglichst mit SUV…

Biggy
5 Jahre her

Nein, man sollte es nicht kürzer fassen. Dass wir schon in der Kita an Convenience Produkte gewöhnt werden und der Wert für ein gut gekochtes Essen zunehmend verloren geht, ist sicherlich bedenklich. Bedenklicher ist jedoch eine andere Beobachtung des Verfassers: Politiker, die von einem vermeintlichen Rechtsbruch sprechen und im Fall eines berechtigten Widerspruches „trotzdem“ sagen. Menschen, denen der Wert für ein gutes Essen abhanden gekommen ist, kann man vielleicht noch verschmerzen. Politiker, die sich auf das Recht berufen, deren Worte und Taten jedoch nicht daran gebunden sind, nicht.