Eine Schildkröte ist eine Schildkröte, ist eine Schildkröte

Der neue Don Giovanni am Opernhaus Halle hat musikalischen Charme und gibt szenisch einige Rätsel auf.

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Andrii Chakov als Don Giovanni an der Oper Halle (Foto: Falk Wenzel/TOO)

Halle/StäZ – Mozarts und Da Pontes „Don Giovanni“ ist ein Nachtstück. Eins, in dem zwei Männer um die Häuser ziehen und eine Frau nach der anderen verführen. Das behauptet zumindest Leporello mit seiner berühmten Register-Arie. Ein bisschen hochgestapelt wirkt das alles. 1003 Affären allein in Spanien – das ist schon allerhand. Wirklich nachrechnen (samt Anreise und Abreise bzw. der gelegentlich notwendigen Flucht) bringt nichts. Es geht eher um den Ruf des Verführers, um den Reiz jenes „Viva la Liberta“, mit dem er sich über die Konventionen und ihre Zwänge und Grenzen hinwegsetzt. Für die Realen in Gestalt aufpassender Ehemänner, Brüder oder Väter führt Don Giovanni immer seinen Degen mit. Für die Imaginären, die die herrschende Moral und die Androhung der Hölle vorgeben, deren Verachtung. Und sein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Eigentlich ist Don Giovanni die personifizierte erobernde Männlichkeit, die nicht nach den Folgen fragt. Also schon deshalb keine moralischen Probleme hat, weil ihm die Moral fehlt.

Dass sich der Menschenauskenner Mozart damit gleichwohl nicht auf die Seite der herrschenden Moralprediger seiner Zeit stellte, versteht sich von selbst. Dass er es so verpackte, dass man ihm sein Sympathisieren mit der Freiheit im weiten Sinne nicht wegzensieren konnte, und es auch über zwei Jahrhunderte später noch funktioniert, ist ein Ausdruck seines Genies. Und dann bleibt natürlich – gerade in unseren auf Genderdiskurse versessenen Zeiten – neben der Perspektive Don Giovannis auf die Frauen auch der umgekehrte Blick, nämlich auf den der Frauen auf Don Giovanni.

Objekte der Begierde. Robert Sellier, Liudmila Lokaichuk, Andrii Chakov (Foto: Falk Wenzel/TOO)

Für die drei von ihnen, denen wir an seinem letzten Tag begegnen, ist er auf verschiedene Weise das Objekt ihrer Begierde. Die verlassene Donna Elvira würde es mit ihm sogar als Ehemann und Familienvater versuchen. Sie hat wirklich etwas übrig für ihn, reist ihm sogar hinterher. Zerlina ist vom Vergleich mit ihrem standesgemäßen Bräutigam Masetto so irritiert, dass sie den noch kurz vor der Hochzeit mit Don Giovanni betrügen würde. Dass Zerlina  dann, als es beim Fest des Don Giovanni konkret wird, einen Rückzieher macht, wird sie wohl ihr Leben lang (insgeheim) bereuen. Und Donna Anna hat zur Erklärung ihrer (vermutlichen) Affäre, die mit dem Tod ihres einschreitenden Vaters endet, eine haarsträubende Geschichte für ihren Verlobten Don Ottavio parat. Sie tischt ihm allen Ernstes eine abgewehrte Vergewaltigung wegen Verwechslung des Übeltäters mit dem Verlobten auf. Es spricht Bände, dass der das glaubt.

Es ist ein Stoff, der sich in viele Richtung ausdeuten lässt. Vor allem die Fans von Florian Lutz waren gespannt, wie er das inszenieren würde. Die Bühne von Martin Kukulies und die Kostüme von Mechthild Feuerstein waren schon fertig, als man ihm in Kassel (nicht trotz, sondern wegen seiner Hallenser Regieaufreger) den roten Teppich einer Generalintendanz ausrollte. Wer will ihm da verübeln, wenn er sich bei der Frage: Kassel gründlich vorbereiten oder sich seriös einer „Don Giovanni“-Herausforderung stellen, für Kassel entschieden hat. Es ist zwar toll, wenn der Intendant ein aufregender Regisseur ist, aber seinen Job kann er auch ohne selbst zu inszenieren, ausfüllen. So kam Regisseurin Nina Kupczyk zu der nur schwer (und eigentlich überhaupt nicht zu lösenden) Aufgabe, in eine vorgegebene Ausstattung hinein zu inszenieren.

Johannes Wedeking, Liudmila Lokaichuk, KS Romelia Lichtenstein, Robert Sellier, Vanessa Waldhart (v.l.; Foto: Falk Wenzel/TOO)

Sie verteilt eine Reihe von durchaus bedenkenswerten und ausbaufähigen Einfällen über eine Szene, für die ein Pflegeheim mit hinfälligen Frauen und Männern prägend ist. Der von Johannes Köhler einstudierte Chor ist diesmal vor allem mit seinen schauspielerischen Fähigkeiten im Umgang mit Rollstuhl und Rollator gefordert. Mittendrin der ergraute Don Giovanni im Nachthemd und Leporello wie ein pensionierter Hausmeister. Das wirkt alles andere als verführerisch.

Zur Ouvertüre gibt es eine schwarze Messe. Da knallt ein Rumpf aus dem Schnürboden  herab und eine nackte Frau steht auf einer Bare wie auf einem Altar in der Mitte. Vielleicht ein Verweis auf das, was nach der Höllenfahrt des Finales kommt? Das optische Spiel mit dem Danach bleibt der Hintergrund an diesem Abend, auch wenn das Fest mit üppiger Tafel und frisch Gegrilltem für alle wie eine Verjüngungskur wirkt. Auch für Don Giovanni. Der hat jetzt schwarze Haare und ist ganz der smarte Sympathikus. Bei dem fabelhaft mit einem kultivierten Timbre singenden Andrii Chakov freilich bleibt er eine Spur zu harmlos, zu wenig außerhalb der Norm. Seine (selbst-)zerstörerische Seite bleibt jedenfalls im Verborgenen. Selbst wenn er zu Leporellos Register-Arie den (vier) splitternackten und anderen Patientinnen dieser Pseudo-Klinik oder dieses Als-ob-Altersheims Spritzen verpasst, oder die seine Kreise störende Donna Elvira von zwei Pflegern ans Bett fesseln und so ruhigstellen lässt, wirkt das bei ihm nicht sonderlich furchterregend. Chakov ist ein toller Sänger, dem man gerne zuhört, der aber in ein paar Jahren sicher einen deutlich vielschichtigeren Don Giovanni abliefern dürfte.

vorne: Andrii Chakov, Ki-Hyun Park, Arthur Burse (Foto: Falk Wenzel/TOO)

Hintergründiger ist da schon die vokal ihre Erfahrung und Technik voll ausspielende und auf Verve setzende Romelia Lichtenstein als Donna Elvira. Anfangs beobachtet sie von der Seite aus das Geschehen. Wenn sie selbst ein- und zum Stock greift, altert sie in diesem Augenblick. Wenn Don Giovanni und Leporello die Kleider tauschen, damit Leporello seinem Herrn die fordernde Verflossene vom Leib halten und er sich einem neuen Abenteuer zuwenden kann, dann stehen die beiden Männer hinter einem Rahmen auf der Vorderbühne und Elvira genau dazwischen. Offensichtlich bemerkt sie den geplanten Betrug und spielt sehenden Auges mit. Das ist einer von den Einfällen, die als Behauptung, gleich nach dem sie gemacht wurden, enden.

vorn: Michael Zehe, dahinter, v.l. Andrii Chakov, Robert Sellier, Liudmila Lokaichuk, Vanessa Waldhart, Johannes Wedeking, Romelia Lichtenstein (Foto: Falk Wenzel/TOO)

Wenn die Regisseurin ihre Alten im Hintergrund ins Bett oder wohin auch immer schickt, dann gibt es zu viele konventionelle Nummern in Rampennähe. Noch dazu ohne eine Spur von Ironie. Der Tumult des ersten Finales friert zu einem Standbild ein, in dessen Mitte eine Don-Giovanni-Puppe symbolisch abgefackelt wird, Leporello und sein Herr aber einfach abgehen. Auch die Rolle des immer mal als Kind auftauchenden Giovannis bleibt vage. Da hat es die Schildkröte, die einmal hinter Don Ottavio (für den Robert Sellier bis an seine Grenzen geht) quer über die Bühne kriecht und noch einmal auftaucht, als der Komtur (machtvoll wie immer: Ki-Hyun Park) zum (Anstalts-)essen an Don Giovannis Tisch kommt, einfacher. Eine Schildkröte ist eine Schildkröte ist eine Schildkröte. Punkt. Nach der fragt jeder. Wieso eine Statue aus Stein Sprechen, Laufen und einen Verführer ins Jenseits befördern kann, danach fragt keiner.

Im Ganzen springt der szenische Funke an diesem Abend nicht über. Dunkle Kulissen, zum Teil betont hässliche Kostüme (vor allem Leporello und Masetto trifft es hart!), eine Überfülle von rätselhaften Bildern und dann wieder ganz simples Rumstehen – das fügt sich nicht wirklich zu einer packenden Nachtwanderung ins Unterbewusste.

Musikalisch gelungenere Abend: Dirigent Michael Wendeberg beim Schlussappplaus. (Foto: Roberto Becker)

Musikalisch gelingt der Abend indessen deutlich überzeugender. Vor allem Dank des opernaffinen Michael Wendeberg am Pult der Staatskapelle. Hier wird nicht auf Effekt, sondern auf den Zusammenhang gesetzt. Ein Wohlfühl-Mozart, bei dem sich die anklingenden Abgründe triftig einfügen.

Der grundsolide Johannes Wedeking legt es als Masetto bewusst drauf an, an der Seite seiner selbstbewusst auftrumpfenden Zerlina (Vanessa Waldhardt), den etwas tumben Bräutigam herauszukehren.

Schade, dass Michael Zehe etwas indisponiert war, wenn der vokal mit seiner Spielfreude gleichziehen wird, dann gibt es einen restlos überzeugenden Leporello. Ludmila Lokaichuk besticht an der Spitze des Ensembles mit ihrer so anmutigen wie leidenschaftlichen Donna Anna. Etliche Buhs und ein einzelnes, lautstarkes Bravo für die Regie.

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