„Wo sind Halles breite Radwege?“

Der frühere Bundesvorsitzende der Grünen Cem Özdemir spricht im StäZ-Interview über das beschwerliche Umsteigen vom ICE auf das Fahrrad in Halle, die AfD, den Strukturwandel in der Kohleregion und grüne Höhenflüge.

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„Ich habe mich in meine schwäbische Heimat abgeschoben, aber so hatten die das natürlich nicht gemeint.“

Wie kann man denn AfD-Wähler wieder von der Demokratie und demokratischen Parteien überzeugen?
Özdemir: Indem man zunächst einmal zuhört. Ich gebe ihnen ein Beispiel: Letztes Jahr zu Aschermittwoch gab es in der Sächsischen Schweiz eine AfD-Rede, in der einer meinen Namen genannt hat, und dann hat der Saal getobt: ‚Abschieben, abschieben.‘ Ich habe mich dann auch tatsächlich gleich selbst abgeschoben, und zwar in meine schwäbische Heimat Bad Urach. Aber so hatten die das natürlich nicht gemeint, sondern hatten sich auf die Herkunft meiner Eltern und Vorfahren bezogen. Es gibt aber das schwäbische Motto: ‚Schwätze muss man mit de Leut“, also bin ich selbst in die Sächsische Schweiz nach Pirna gefahren und zwar extra auf Einladung der Freien Wähler und nicht der meiner eigenen Partei. Da waren dann Leute aus unterschiedlichen Ecken des politischen Spektrums. Nach den erwarteten Fragen zur Flüchtlingspolitik kamen dann aber schnell andere Themen zur Sprache. Ein Unternehmer erzählte da von seinem Urlaub in Bulgarien, wo er schnelles Internet hatte, während zu Hause in der Sächsischen Schweiz immer noch Kupferkabel statt Glasfaserkabel verlegt ist. Da fragt sich der Unternehmer natürlich zurecht, wie er seine Firma konkurrenzfähig halten und Fachkräfte finden soll. Ein zweiter berichtete, dass es mehr Funklöcher als Funkempfang gibt und ein dritter, dass auf dem Land der Schulbus der einzige Bus ist, der fährt. Und in den Schulferien ist der öffentliche Verkehr praktisch stillgelegt. Da fragen sich die Menschen, warum ihnen die Politiker etwas von der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt erzählen, sie zuhause aber nichts davon merken.

Also reden, reden, nochmals reden?
Özdemir: Reden und handeln. Wenn solche Fragen in einer Blase bleiben, also in einem selbstreferentiellen Rahmen, dann steht irgendwann einer auf und sagt, das liege alles an den Flüchtlingen. Als hätten die Flüchtlinge 2015 als erstes alles aufgegraben und die Glasfaserkabel rausgerissen, um sie durch Kupferkabel zu ersetzen. Ich sage dann immer: Das gute in der Demokratie ist, dass man das ändern kann. Zum Beispiel indem man an der Wahlurne dafür sorgt, dass der nächste Minister für Verkehr und digitale Infrastruktur nicht mehr von der CSU ist, sondern vielleicht mal einer, der etwas von der Materie versteht. Der also – statt sich jahrelang mit einer unsinnigen PKW-Maut zu beschäftigen oder im Dieselskandal durch Untätigkeit zu glänzen – endlich den ländlichen Raum zur Priorität macht, den Netzausbau vorantreibt und für exzellenten öffentlichen Verkehr sorgt. Das ist für mich eine der zentralen Antworten auf die AfD.

„Der Einstieg in den Kohleausstieg war überfällig.“

Stichwort ländlicher Raum: Vor den Toren Halles liegt das Mitteldeutsche Bergbaurevier, eine stark vom Kohlebergbau geprägte Region. Nun ist der Kohleausstieg beschlossen worden, eine grüne Forderung seit vielen Jahren. Wie soll das die Region hier packen?
Özdemir: Stimmt, der Kohleausstieg ist eine grüne Forderung. Aber seit der Unterschrift unter das Pariser Klimaabkommen ist das endlich auch nationale Politik. Die Kanzlerin, die das unterschrieben hat, ist nicht von meiner Partei. Ich bin in dieser Hinsicht altmodisch: Wenn eine deutsche Bundeskanzlerin für Deutschland ein Wort gibt, dann haben wir es zu halten. Mit dieser Unterschrift wurde festgelegt, dass wir nach der Steinkohle auch aus der Braunkohle aussteigen müssen. Dieser Einstieg in den Ausstieg war überfällig.

Aber wie steigt man am besten aus?
Özdemir: Der Kohlekompromiss ist ein klassischer Kompromiss: Für die einen geht es zu langsam, für die anderen zu schnell. Die dreckigsten Kohlekraftwerke müssen aus grüner Sicht jetzt schnellstmöglich vom Netz und die in der Kohleindustrie Beschäftigten beim Strukturwandel miteinbezogen werden. Dieser Umbau der Energieversorgung mag nicht jeden Tag ein Spaziergang sein, aber es ist eine große Chance, unser Land zu modernisieren. Beispielsweise indem wir jetzt Mittel für den Strukturwandel dafür nutzen, Zukunftsmärkte wie die künstliche Intelligenz nicht den USA und China zu überlassen. Der Kohlekompromiss allein reicht allerdings nicht aus, um den CO2-Ausstoß ausreichend zu verringern, wir brauchen jetzt die schrittweise Energie‑, Agrar- und Verkehrswende. Die Klimakrise findet nicht irgendwann einmal statt, sondern wir sind mitten drin. Das war im letzten Sommer für alle deutlich zu spüren. Viele in der Wirtschaft haben das übrigens schon lange verstanden. Die Großtrends dort zeigen, dass Versicherungen oder Rentenfonds ihr Geld schon lange nicht mehr in der Kohle investieren. Die versprechen sich woanders eine höhere und langfristigere Rendite, weil sie wissen, dass die Kohle keine Zukunft hat. Vorausschauende Politik muss eine Region wie Sachsen-Anhalt darauf vorbereiten, damit es nicht einen Schock gibt, und nicht die Leute vor Ort die Zeche dafür zahlen.

„Die Cyberagentur scheint ja erst einmal vor allem Leipzig zugute zu kommen.“

Bisher ist das einzige konkrete Versprechen, dass wir eine Cyberagentur in die Region bekommen. Was muss noch passieren?
Özdemir: Die Cyberagentur scheint ja erst einmal vor allem Leipzig zugute zu kommen. Das reicht natürlich nicht. Startups und Mittelstand sind jetzt gefragt. Wichtig ist aber auch der Ausbau der Infrastruktur, der digitalen und des öffentlichen Verkehrs. Das ist entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts. Die Region braucht Breitbandinternet. Wir haben bald ja auch die Vergabe der 5G-Lizenzen. Da dürfen auf dem Land nicht neue weiße Flecken entstehen. Dazu zählt auch die Reaktivierung von Eisenbahnstrecken in der Region, etwa zwischen Leipzig und Merseburg.

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