MG-Feuer aus dem Theater

Eine szenische Lesung im Literaturhaus Halle über die Wochen der Revolution macht die Ereignisse vor 100 Jahren in Halle eindrucksvoll erfahrbar.

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Otto Kilian (Jonas Schütte) deklamiert mit Revolver auf dem Tisch. Szenische Lesung zur Novemberrevolution im Literaturhaus Halle (Foto: xkn)

Halle/StäZ – Am Ende war es ein kleiner hallescher Bürgerkrieg, der vor 100 Jahren in den Straßen der Innenstadt tobte. Geplünderte Geschäfte, Arbeiter und Matrosen, die sich und die Revolution verraten fühlten und sich mit Freikorpssoldaten Schusswechsel über den heutigen Joliot-Curie-Platz hinweg lieferten, und Bürger, die vor Schmach über den verlorenen Weltkrieg nicht wussten, was sie von der Revolution und der neuen Zeit erwarten sollten. Die Ereignisse in Halle vor, während und nach der Novemberrevolution sind in eindrücklichen Zeitzeugnissen überliefert. Studierende der Uni Halle twittern derzeit täglich, was vor 100 Jahren geschah. Lebendiger noch hat das Revolutionsgeschehen eine szenische Lesung am vergangenen Dienstag im Literaturhaus werden lassen. Schauspieler des neuen theaters rezitierten authentische Texte verschiedener Zeitzeugen des Geschehens, die ebenfalls am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Uni Halle zusammengetragen worden waren.[ds_preview]

„Geplatzte Träume?“ war dabei das gut gewählte Motto. Denn während mit der Niederlage der Deutschen und der Abdankung des Kaisers für viele bürgerlichen Untertanen bereits viele Träume von deutscher Ehre und Größe vor der Revolution geplatzt waren, platzten die Träume der Revolutionäre nach Freiheit und Sozialismus inklusive der Vergesellschaftung der Produktionsmittel in den Monaten danach, gerade in Halle, das eine Hochburg der USPD und später des Spartakusbundes gewesen war. Am Ende schickte die SPD-Regierung in Berlin Truppen.

„Reinen Tisch machen wie noch nie in der GEschichte!“
Otto Kilian, USPD

Patrick Wagner, Professor für Zeitgeschichte an der Uni Halle. (Foto: xkn)

Für Patrick Wagner, der Geschichtsprofessor, unter dessen Ägide die hallesche Revolution gerade nachvollzogen wird, sind die vier Monate zwischen November 1918 und März 1919 „vier Monate, wo in Halle alles möglich zu sein scheint“, wie er zur Einstimmung auf die Lesung sagte. „Die einen träumen von großen Veränderungen, die anderen fürchten sich vor großen Veränderungen. Die einen haben Hoffnung, die anderen haben Panikattacken.“ Die Quellenlage, auch das führt Wagner aus, ist gut. „Jedes Lager hatte damals seine Zeitung.“ Es gibt also immer mehrere Blicke auf die gleichen Ereignisse. Auch so entsteht das vielschichtige Bild einer Zeit. Mit dem Nachsatz, „Ja, es gab damals mehr als eine Zeitung“, erntete Wagner zudem noch erste Lacher.

SPD-Arbeiter (Andreas Range) zwischen allen Stühlen. (Foto: xkn)

Die Charaktere, die von den nt-Schauspielern Andreas Range, Stanislaw Brankatschk, Jonas Schütte, Jennifer Krannich und Daniela Schober in wechselnden Rollen zum Leben erweckt werden, sínd ein kleiner Querschnitt der Epoche. Da ist ein SPD-Arbeiter, der namenlos bleibt, aber die moderate und auf die Aufrechterhaltung der Ordnung zielende Politik der neuen Regierung verteidigt. Man merkt bei der von Andreas Range gespielten Figur, wie er in den Zeiten, die von starker gesellschaftlicher Spaltung bestimmt sind, zwischen den Stühlen sitzt. Der Sozialismus als Fernziel, ja, aber Revolution wie bei den Bolschewiki, nein. Eine alte Frau und ihre Enkelin, die er bei den Plünderungen im März auf frischer Tat dabei ertappt, wie sie ein paar Handtücher aus einem Warenhaus plündern wollen, weil ringsum auch geplündert wird, bedroht er mit Pistole, denn Ordnung muss sein. Warum er das tut, wo die Frau doch nur ein kleines Stück dem unverschuldeten Elend entfliehen will, kann er nicht beantworten.

Dagegen der USPD-Funktionär und Revolutionsführer Otto Kilian, von Jonas Schütte gespielt, der voll Revolutionseifer ist und schlechte selbstgeschriebene Kampfgedichte vorträgt. Der Journalist, der plötzlich an die Spitze der lokalen Revolution tritt, träumt von der „Gründung einer neuen Welt“, geht aber im revolutionären Kampf nicht bis zum Äußersten. Zwar will er „reinen Tisch machen, wie noch nie in der Geschichte“, als er aber bei Oberbürgermeister Richard Robert Rive ist, um die Amtsgeschäfte zu übernehmen, verhaspelt er sich und lässt sich von Rive billig abspeisen. Am Ende bleibt er desillusioniert und inhaftiert zurück.

„Ich habe den Entschluss gefasst, diese Schmach nicht zu überleben.“
Adolf Weissler, hallescher Notar

Den bürgerlichen Untertan verkörpert der hallesche Notar Adolf Weissler, gespielt von Stanislaw Brankatschk. Weissler schreibt Tagebuch und hat drei Söhne im Krieg (sie werden alle wiederkehren). Die Umwälzungen in seiner Umgebung erlebt er mit Verachtung, den Zusammenbruch des Kaiserreichs als preußischer Jurist mit jüdischen Wurzeln mit Bestürzung. Schon am 11. November 1918 fasst er angesichts des Waffenstillstands den zunächst folgenlosen Entschluss, „diese Schmach nicht zu überleben.“ Er notiert was um ihn herum passiert mit Abscheu vor den Revolutionären, sieht aber gleichzeitig keinen Zweck, wegen des Endes der „ruhmreichen Hohenzollern einen Bürgerkrieg zu entfesseln“. Als die Unruhen in Halle um sich greifen, versucht er, sich wenigstens mit seinen Nachbarn in einer Art Hauswehr zu organisieren, scheitert aber am Desinteresse der anderen. Als es dann zu Streik und Gegenstreik der Bürger kommt, freut er sich darüber, dass das Bürgertum das öffentliche Leben zum Erliegen gebracht hat. Im Sommer 1919, als in Halle schon wieder Ruhe und Ordnung herrschen und in Versailles der Friedensvertrag unterzeichnet wird, geht Weissler auf die Peißnitz und erschießt sich.

nt_Schauspieler Andreas Range, Stanislaw Brankatschk, Jonas Schütte, Daniela Schober und Jennifer Krannich im Literaturhaus Halle. (Foto: xkn)
Jennifer Krannich liest aus dem Tagebuch der 13-jährigen Grete Fuß aus Halle. (Foto: xkn)

Man mag es makaber finden, wie oft beiläufig in diesen Revolutionstagen von Blut und Toten gesprochen und geschrieben wird. Die 13-jährige Grete Fuß, gespielt von Jennifer Krannich, folgt den ganzen Aufmärschen und Unruhen als dabeistehender Teenager, dem es genauso wichtig ist, den Hochgenuss der Schokoladentorte  festzuhalten wie das Geknalle auf der Straße. Doch vor allem aus ihrem Blick wird die Wucht, die sich damals in der Stadt entfaltete, mit all den bekannten Straßennamen, indirekt aber anschaulich vermittelt. Zehntausende Arbeiter und Soldaten, die sich auf dem Rossplatz sammeln, dann die Ludwig-Wucherer-Straße hinunter‑, weiter die Bernburger und die Geiststraße entlangziehen (buchstäblich vorbei am 100 Jahre später hier existierenden Literaturhaus, in dem die Lesung stattfindet) zum Markt; dagegen Bürgerdemos mit ebenfalls tausenden Teilnehmern, unterscheidbar vor allem und manchmal nur an den Farben der Fahnen – rot gegen schwarz-weiß-rot – es müssen tatsächlich aufregende Zeiten gewesen sein.

Am Ende wird daraus freilich ein Blutbad, in dem auch Freikorpsgeneral Georg Maerker als militaristischer Zyniker, gespielt unter anderem von Daniela Schober, einen Auftritt hat, bei dem es kalt den Rücken herunterläuft. Maerker ist es egal, wer unter dem Militär die Führung des Reiches hat. Und wenn er im Auftrag der Sozialdemokraten eine deutsche Stadt zurückerobern soll, dann macht er das eben. Seine Truppen verschanzen sich unter anderem im Hauptpostamt am heutigen Joliot-Curie-Platz und werden dort von Aufständischen beschossen, die sich mit MGs im Theater, dem heutigen Opernhaus, verbarrikadiert haben.

„Auch wenn wir gescheitert sind, waren wir doch erfolgreich.“
Hallesche Revolutionäre von 1918/19

Diese Zeiten von damals für einen Abend erlebbar gemacht zu haben, ist Uni, Theater und Literaturhaus eindrucksvoll gelungen. Der Bogen wird gespannt vom Aufbruch im November zum vorläufigen Ende der Träume im März. Doch gleichzeitig keimt das neue Leben nach dem Krieg in der Stadt Halle, fernab der Politik. Es wird wieder getanzt und gibt wieder Waren zu kaufen, die es lange nicht gegeben hat. Geschichtsprofessor Patrick Wagner warnte einmal mehr davor, das Geschehen von damals aus heutiger Sicht zu bewerten. „Man kann hinterher immer furchtbar schlau sein“, so Wagner.

Andererseits steht hinter den „geplatzten Träumen“ nicht umsonst ein Fragezeichen. Fragen jedenfalls, was bleibt nach 100 Jahren, haben sich die Akteure bereits damals gestellt. „Auch wenn wir gescheitert sind“, rekapitulieren die Revolutionäre, „so waren wir doch erfolgreich“. Die 40-Stunden-Woche, die Zulassung von Gewerkschaften sind Errungenschaften der Novemberrevolution. „In 100 Jahren wird niemand mehr hungern müssen“, sind sie überzeugt. Sozialismus, Frieden und Solidarität der Völker würden dann auf der Welt herrschen. Oder doch nicht? „In 100 Jahren wird wieder Ordnung herrschen“, meint dagegen Bürger Adolf Weissler. Große Männer würden dann wieder Deutschland regieren, „und jeder wird wissen, wo sein Platz ist.“

Geplatzte Träume?

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