„Die Revolutionäre wussten weder, was genau eine Revolution ist, noch wie man sie macht.“

Zeitgeschichtsprofessor Patrick Wagner erklärt im Interview, was vor 100 Jahren während der Novemberrevolution in Halle ablief. Er hält die Zeit 1918/19 für eine der seltenen offenen Situationen in der Geschichte. Urteilen, ob die Revolution gelungen oder gescheitert ist, will er nicht.

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Revolutionäre Matrosen in Halle im November 1918. (Foto: Stadtarchiv Halle)

Halle/StäZ – Vor 100 Jahren begann auch in Halle die deutsche Novemberrevolution, die zwei Tage später das Kaiserreich hinwegfegte, den Ersten Weltkrieg beendete und nach der Not des Krieges in den Wochen danach den Weg für die erste demokratische Republik ebnete. In Halle wird auf besondere Weise an die Revolution erinnert: In den folgenden Wochen und Monaten lassen Studierende der Geschichte von der Uni Halle auf Twitter die Zeit von vor 100 Jahren lebendig werden und twittern die damailgen Ereignisse, als würden sie heute stattfinden. Patrick Wagner ist ihr Professor für Zeitgeschichte. Mit ihm sprach Felix Knothe über die Revolutionswochen 1918/19 in Halle.[ds_preview]

Herr Wagner, sie erinnern mit Ihren Studierenden an die Revolution in Halle vor 100 Jahren. Warum?
Die Novemberrevolution von 1918 war kein Ereignis, das zwar in Kiel begonnen hat, ansonsten aber fast nur in Berlin oder vielleicht noch in München stattgefunden hätte. In der heutigen Wahrnehmung des historischen Geschehens fehlt, dass die Revolution überall in Deutschland stattfand und zwar, bei vielen Parallelen, dennoch auf unterschiedliche Weise. Deutschland war damals regional noch enorm verschieden. Schon zwischen Halle, Dessau und Magdeburg gab es riesige Unterschiede, was die politische Entwicklung betrifft. Es lohnt sich also immer, auch einmal dahin zu schauen, wo nicht alle hinschauen, also auch in eine Stadt wie Halle.

„In Halle war die Arbeiterschaft linker als in anderen Teilen Deutschlands.“

Was war so besonders an Halle?
Halle und sein Umland waren speziell, weil hier 1918/19 der linke Teil der Arbeiterschaft, der die Revolution weiter vorantreiben wollte, als es letztlich passierte, viel stärker war als in andern Teilen von Deutschland. Das wird bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 deutlich, als die USPD, die für das Weitertreiben der Revolution stand, in Halle über 40 Prozent bekommen hat, während es reichsweit nur knapp 8 Prozent waren.

Das „rote Halle“ ist also nicht nur ein Mythos, sondern er lässt sich auch belegen?
Da muss man vorsichtig sein, denn die mit dem Begriff „rotes Halle“ verbundenen Mythen stammen später aus dem kommunistischen Lager. Die haben sich dabei etwas Bestimmtes gedacht, wollten ihren eigenen Machtanspruch so legitimieren. Die Arbeiterschaft hat sich 1918 in Halle zwar deutlich weiter links verortet als in anderen Teilen Deutschlands, aber sie war zunächst eher linkssozialistisch als kommunistisch. Insofern diente die Bezeichnung „rotes Halle“ später auch der nachträglichen Vereinnahmung durch die Kommunisten.

Warum war Halle linker als andere Industriestädte?
Es ist die Summe verschiedener Gründe: Zum einen hat die Industrialisierung hier nach 1900 sehr schnell und schockartig stattgefunden. Bergbau gab es zwar schon länger, aber die Chemie- und Elektroindustrie siedelte sich zwischen Halle, Bitterfeld und Leipzig in relativ kurzer Zeit an. Für viele Menschen, die bis dahin keine Industriearbeiter waren, war das Arbeiten und Leben in einer Fabrik eine schockartige Erfahrung. Durch den Ersten Weltkrieg wurde das noch beschleunigt. Zum anderen standen die sozialistischen Funktionäre der Region um Halle, Merseburg und Leipzig innerhalb der Sozialdemokratie schon vor dem Kriegsbeginn 1914 weiter links als anderswo. Während des Ersten Weltkriegs trennten sich dann sehr viele von ihnen von der alten, sogenannten Mehrheits-SPD, die den Krieg unterstützte, und gingen zur USPD. Und mit den Funktionären gingen die Arbeiter mit.

Man kennt die Unruhen von Kiel, man kennt die Proklamationen in Berlin. Was hat in Halle das revolutionäre Tagesgeschehen bestimmt?
Auch in Halle begann die Revolution wie fast überall in Deutschland mit den Soldaten. In Halle war die Fliegerersatzabteilung Nr. 14 stationiert. Die Soldaten erhoben sich am Morgen des 7. November gegen ihre Offiziere und entwaffneten sie, weil sie ihnen nicht trauten. Interessant ist, dass sich die Soldaten zunächst nicht gegen die Regierung wendeten, weil sie davon ausgingen, dass die eigentlich Frieden schließen wollte, aber die Offiziere und die Heeresleitung den Krieg auf Teufel komm raus fortsetzen wollten. Die Soldaten meuterten also gegen die Offiziere, aber nicht gegen die Regierung an sich. Schon am 7. November kam aber auch die Arbeiterschaft in Bewegung und demonstrierte in Halle. Alle Beteiligten wussten dabei weder, was eine Revolution genau ist, noch wie man sie eigentlich macht.

Wer weiß das schon.
Eben. Man muss es sich jedoch immer vor Augen führen, wenn man so eine Revolution historisch beurteilt. Oft werden in Medien und Geschichtsschreibung ja ganz schnell Noten verteilt: Dieses hätten die Revolutionäre besser machen müssen, jenes sei nicht radikal genug gewesen. Dagegen wehre ich mich. Für die Akteure war es eine Situation ohne Vorbild. Das magische Wort Revolution gab es zwar. Man wusste, dass irgendwie alles anders werden sollte. Immerhin ein Jahr vorher hatte es in Russland aber vor allem Chaos und Gewalt gegeben. Wie man es selbst machen sollte, das wusste man in Deutschland und in Halle nicht.

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