„Die Revolutionäre wussten weder, was genau eine Revolution ist, noch wie man sie macht.“

Zeitgeschichtsprofessor Patrick Wagner erklärt im Interview, was vor 100 Jahren während der Novemberrevolution in Halle ablief. Er hält die Zeit 1918/19 für eine der seltenen offenen Situationen in der Geschichte. Urteilen, ob die Revolution gelungen oder gescheitert ist, will er nicht.

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Veranstaltungsplakat für vier parallele revolutionäre Versammlungen im November 1918 (Quelle: Stadtarchiv)

Wie lief die Revolution in Halle auf der Straße ab?
Hier bildeten sich schnell zwei verschiedene Bewegungen. Da waren die revolutionären Arbeiter und Soldaten, die immer wieder große Demonstrationen veranstalteten. Ab Januar 1919 gab es dann eine große bürgerliche Gegenbewegung, die ja sagte zu Republik und Nationalversammlung, aber im Kern auch sagte: Wir demonstrieren gegen die Arbeiterbewegung. Die Hauptparole war „Ruhe und Ordnung“, und damit wendeten sich bürgerliche Demonstranten gegen Veränderungen, die über das schon Erreichte hinausgehen würden. Eine Forderung wie die Sozialisierung der Industrie lehnten sie zum Beispiel ab. Das bedeutete eine markante Veränderung der politischen Kultur, denn im Kaiserreich war das bürgerliche Lager nicht demonstrierend auf die Straße gegangen. Sie kopierten nun die Aktionsformen der Arbeiterbewegung. Es gab auch gewaltsame Auseinandersetzungen auf den Straßen, denn beide politischen Richtungen waren der Meinung, dass der öffentliche Raum jeweils nur ihnen gehöre und die andere Seite dort nichts verloren habe.

„Bürger streikten gegen den Streik der Arbeiter.“

Worauf laufen diese Auseinandersetzungen in Halle hinaus?
Es gab in Halle in der Revolutionszeit einen dreifachen Dualismus oder Gegensatz: bei der politischen Herrschaft, in der Armee und auf der Straße. Das explodierte dann im Februar 1919. Damals begann ein Streik der Arbeiterschaft für die Sozialisierung der Industrie, und die Bürger kopierten wiederum die Aktionsform und machten einen sogenannten Bürgerstreik – gegen den Streik der Arbeiter. Einzelhändler schlossen ihre Geschäfte, Ärzte ihre Praxen, Lehrer unterrichteten nicht mehr, und die Beamten der Stadtverwaltung kamen auch nicht mehr zur Arbeit. Dieser Bürgerstreik war sehr wirkungsvoll, denn in der immer noch existierenden Mangelwirtschaft ging das für die Arbeiter schnell ans Existenzielle. Wenn die Geschäfte, in denen man seine jämmerliche Lebensmittelration abholen konnte, jetzt auch noch zumachen, dann steht man wirklich vor dem Nichts. Ebenso, wenn die Beamten im Stadternährungsamt streiken, die die Lebensmittelversorgung organisieren. Wenn Züge nicht mehr fahren, die Lebensmittel und Kohle in die Stadt bringen, entsteht schnell ein richtiges Problem. Das Ende der Entwicklung wurde dann aber von außen gesetzt, indem am 1. März 1919 die Reichsregierung Militär nach Halle schickte. Es gab mehrere Tage Kämpfe und Plünderungen, aber die Machtfrage wurde entschieden, zugunsten der Regierung und gegen die Leute, die sich als Revolutionäre verstanden.

Warum sollte man sich heute für die Revolutionäre von damals interessieren?
Jedenfalls nicht, um ihnen im Nachhinein Noten zu erteilen. Ab November 1918 sahen sich die handelnden Personen für einige Monate in einer völlig offenen Situation agieren. Das kann man nicht auf unsere Gegenwart übertragen, weil es im Moment diese völlig offene Zukunft nicht gibt. In der Geschichte gibt es sie aber sehr wohl ab und zu. Der Herbst 1989 ist zum Beispiel so eine offene Situation gewesen, in der Menschen eine Zeit lang den Eindruck hatten, dass alles möglich und die Welt in jede Richtung gestaltbar ist, wenn man sich einmischt. Gleichzeitig haben sie 1918 und auch 1989 unheimlich viel nicht wissen können über ihre Situation, über die Bedingungen, unter denen sie handeln. Historiker sind dem gegenüber im Nachhinein immer furchtbar schlau und wissen, wie die Sache weitergegangen ist. Mir ist es wichtig, das Handeln der Menschen von 1918 aus der Perspektive zu verstehen, dass sie sich in ganz neuen Situationen befanden und sich im Hier und Jetzt entscheiden mussten, so oder so zu handeln. Während wir uns das von heute aus in aller Ruhe und mit viel Abstand anschauen können.


Kann man 1918 und 2018 doch irgendwie vergleichen? Tauchen damalige Konflikte oder die berühmten Weimarer Verhältnisse heute immer noch oder vielleicht wieder auf?
Menschen suchen sich immer gerne Analogien aus der Geschichte. Aber die Gesellschaft des Jahres 1918 und die Gesellschaft des Jahres 2018 sind grundverschieden. Wir leben in einer völlig anderen Welt: Seit 1945 gibt es die Atombombe, unsere Welt ist ganz anders globalisiert und vernetzt, wir leben mit anderen Medien, der Kapitalismus funktioniert anders, und früher stabile Milieus haben sich inzwischen aufgelöst.

Warum sollen wir uns dann überhaupt an die Revolution vor 100 Jahren erinnern?
Um die Menschen von damals besser zu verstehen. Man muss sie immer im Kontext ihrer Zeit betrachten und nicht so tun, als wären es Menschen, die in unserer Gegenwart leben und die wir mit unseren eigenen Maßstäben beurteilen können. Immerhin lernt man am historischen Beispiel vielleicht etwas darüber, welche Fragen man selbst an die Gegenwart stellen sollte, um sie besser zu verstehen. Und man sieht, welche Wirkungen bestimmte Ereignisse und Entwicklungen haben können – können, nicht: müssen. Die Gewalt des Märzes 1919 etwa führt nicht zur Entschärfung der Konflikte. Halle wird die ganze Weimarer Republik hindurch scharf polarisiert sein in ein sehr linkes und ein sehr rechtes Lager. Bald wird es in Halle kaum noch etwas dazwischen geben, auch weil am Anfang zwischen 1918 und dem Mitteldeutschen Aufstand 1921 sehr starke wechselseitige Gewalterfahrungen stehen. Auch später werden Polarisierungen bleiben. Hier sieht man, wie Gewalterfahrungen eine Gesellschaft langfristig prägen können.

Bis heute?
Wir haben keine einfache Fortsetzung der Gegensätze, sondern erleben sie allenfalls in sehr verwandelter Form. Die Vorstellung von verschiedenen politischen Lagern existiert weiter. Die konservative Seite bezeichnet sich ja auch heute als bürgerliches Lager, wenngleich viele die sich dazu zählen, alles Mögliche sind, nur nicht wirklich bürgerlich im traditionellen Sinne. Auch bei den „Linkssozialisten“ von 1918 waren viele verschiedene Motive dabei. Unter ihnen gab es auch Menschen, die sich nicht als radikale Revolutionäre verstanden, sondern vom reformistischen Flügel der SPD kamen. Zugleich aber waren sie radikal gegen den Krieg und eben deshalb in der USPD. Das vorschnelle Vergeben von Etiketten und Noten verstellt den Blick auf die Wirklichkeit. Das immerhin gilt für heute wie für damals.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Tagesgeschehen von vor 100 Jahren wird von der Uni Halle bis März getwittert. Die StäZ bindet die Tweets auf ihrer Startseite ein.

Am 27. November 2018 findet außerdem eine szenische Lesung zu den Ereignissen der Novemberrevolution von Schauspielern des neuen theaters im Litearturhaus Halle statt.

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