„Die Revolutionäre wussten weder, was genau eine Revolution ist, noch wie man sie macht.“

Zeitgeschichtsprofessor Patrick Wagner erklärt im Interview, was vor 100 Jahren während der Novemberrevolution in Halle ablief. Er hält die Zeit 1918/19 für eine der seltenen offenen Situationen in der Geschichte. Urteilen, ob die Revolution gelungen oder gescheitert ist, will er nicht.

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Verblasste Zeit: Der Soldatenrat der Stadt Halle im Großen Saal des Stadthauses (Foto: Stadtarchiv)

Welche Probleme mussten die Revolutionäre in Halle lösen?
Jede Menge. Halle hungerte im Herbst 1918 wie ganz Deutschland. Es herrschte absoluter Mangel. Der Schwarzmarkt blühte, doch auf dem konnten sich nur die versorgen, die Kaufkraft hatten. Man gründete schnell Räte, um Selbstverwaltungsorgane zu haben, die das Leben organisieren konnten. Es gab auch in Halle einen Arbeiter- und Soldatenrat, und das erste, was er am 9. November 1918 machte, war, die Behörden aufzufordern, einfach weiterzuarbeiten.

Spöttisch könnte man sagen: Eine sehr deutsche Revolution.
Das war eine absolut notwendige Maßnahme. Wir reden über eine Stadt von etwa 180.000 Einwohnern. Die Lebensmittel mussten in die Stadt kommen und dort verteilt werden. Das ist nicht spezifisch deutsch, sondern allgemein gültig für bereits stark urbanisierte Gesellschaften, die existenziell von komplexen Infrastrukturen abhängig sind. Das wussten auch die Revolutionäre. Die russische Revolution fand dagegen in einem hauptsächlich agrarisch geprägten Land statt, in dem sich der Großteil der Bevölkerung noch selbst versorgen konnte.

Was waren andere Probleme, die sich stellten?
Auch Halle war eine Kriegsgesellschaft mit vielen Soldaten und vielen Waffen. Der Albtraum wäre gewesen, wenn die Waffen breit gestreut und für jedermann verfügbar geworden wären. Hinzu kommt, dass ab Ende November 1918 die Frontsoldaten des Infanterie- und des Artillerieregiments nach Halle in die Kasernen zurückkehrten. Während die meisten Wehrpflichtigen schnell nach Hause verschwanden, blieben vor allem die Berufssoldaten und ‑offiziere zurück. Sie standen der Revolution oft ablehnend gegenüber. Aus all diesen Gründen war klar: Auf funktionierende Verwaltungsstrukturen konnte man auch als Revolutionär nicht verzichten.

„Es gab über Monate hinweg zwei konkurrierende politische Herrschaftszentren.“

In all dem unterscheidet sich Halle nicht so sehr von Berlin, wo die SPD auch vor diesen Problemen stand.
Der Mehrheits-SPD von Friedrich Ebert wird oft der Vorwurf gemacht, die Verantwortung direkt von der letzten kaiserlichen Regierung übernommen zu haben, das sei nicht richtig „revolutionär“ gewesen. Aber auch das ist nachträgliches Notenverteilen. In Halle waren die Revolutionsführer, die aus der USPD kamen, in ihrem eigenen Verständnis entschlossene Revolutionäre, die in dieser Frage – ob man die Verwaltungsstrukturen intakt lässt – aber genauso gedacht haben, wie die Mehrheits-SPD in Berlin. Den Oberbürgermeister Richard Robert Rive, der kulturell zwar fortschrittlich, aber politisch streng konservativ und nach dem preußischen Dreiklassenwahlrecht gewählt worden war, hätten sie eigentlich ihrem politischen Verständnis nach sofort absetzen müssen. Er ist aber nicht am Händeldenkmal erschossen worden, sondern er arbeitete weiter. Der Arbeiter- und Soldatenrat sagt ihm nur: Wir sind jetzt hier das neue Herrschaftsorgan, und wir werden Euch immer mal wieder sagen, was Ihr tun sollt.

Wer waren die anderen handelnden Personen außer Rive?
Die prominenteste Figur auf Seiten der Revolutionäre war Otto Kilian, nach dem ja auch eine Straße in Halle benannt ist. Otto Kilian war der Kopf des Arbeiter- und Soldatenrates. Er war Redakteur des Volksblattes, der Zeitung der USPD in Halle. Kilian war gelernter Schriftsetzer, und ist durch seine Redakteurstätigkeit sehr bekannt geworden in Halle. Er versuchte nun für den Arbeiter- und Soldatenrat, immer wieder der Verwaltung unter Rive Anweisungen zu geben. Rive und die Verwaltung hatten aber viele Taktiken, sich dem zu entziehen, auf Zeit zu spielen. Über Monate hinweg gab es also zwei konkurrierende politische Herrschaftszentren.

Wie funktionierte das?
Rive war offenbar ein kluger Politiker, dem von Anfang an klar war, dass eine frontale Konfrontation mit den Revolutionären nur scheitern konnte. Stattdessen wählte er eine Taktik des Ausweichens und Sich-Nicht-Festlegens. Bezeichnend ist die Szene, als Kilian am 9. November 1918 nach einer großen Demonstration durch die Stadt ins Rathaus ging und zu Rive sagte, der Arbeiter- und Soldatenrat habe die öffentliche Gewalt übernommen. Rive solle nun erklären, dass der Arbeiter- und Soldatenrat die öffentliche Gewalt habe. Darauf antwortete Rive sinngemäß: „Wenn Sie die Gewalt übernommen haben, dann brauche ich Sie Ihnen ja nicht mehr zu geben. Es ist keine Erklärung nötig“. Er legte sich also nicht fest. Auch später hielt er Kilian immer wieder hin und versicherte sich erstmal in Berlin rück. Irgendwann kam dann von dort eine Antwort, aber das Entscheidende war, dass darüber jeweils Wochen vergingen und die Dinge so lange in der Schwebe blieben. Bezeichnend ist aber auch, dass es für Kilian wichtig war, dass bei der Übergabe der Macht an die Revolutionäre alles irgendwie noch seine Richtigkeit und einen Schein von Legalität hatte.

Auf die Idee wäre Lenin nicht gekommen.
Aus diesem Grund führte für die Bolschewiki auch kein Weg an der Diktatur und an der Entgrenzung der Gewalt vorbei. Die deutschen Sozialdemokraten, auch die von der USPD, haben das anders gesehen. Am selben Tag fand in Berlin übrigens der gleiche Vorgang statt: Friedrich Ebert war es äußerst wichtig, vom letzten kaiserlichen Reichskanzler Max von Baden die Amtsgeschäfte offiziell übergeben zu bekommen. Das hätte zwar eigentlich der Kaiser machen müssen, aber den wollte man ja gerade loswerden. Trotzdem war es wichtig, um den Verwaltungsapparat dazu zu bekommen weiterzuarbeiten. Im Gegensatz zu Max von Baden hat sich aber Richard Robert Rive wohl gedacht: Ich lege mich doch hier jetzt nicht fest.

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