Neue Worte, neue Grenzen meiner Welt?

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StäZ-Kolumnist Arne Moritz, Foto: Simone Henninger

In einer Hinsicht ist es leicht, die Welt zu verändern. Man muss nur neu bestimmen, wer oder was unter einen Begriff fällt. Ärztliche Leitlinien haben im November 2017 zum Beispiel neu festgelegt, wer künftig in den USA als bluthochdruckleidend gelten soll. Man hat den Messwert von 140/90 auf 130/80 mm Hg („auf der Quecksilbersäule“) gesenkt.

Gegen diese Absenkung regte sich Widerstand. Ein Einwand verwies darauf, dass mit den neuen Werten 46% der US-Amerikaner zu Bluthochdruck-Kranken gemacht wurden.  Vorher waren es wohl 32%. Das ginge so nicht.

Ein solcher Einwand kommt fast völlig ohne medizinischen Sachverstand aus und ist insofern echt philosophisch gedacht. Hier sträubt sich ein Begriff gegen die Veränderung des anderen. Als Krankheiten bezeichnen wir gewöhnlich Abweichungen vom normalen Funktionieren des menschlichen Organismus. Darum wird es bei einer von fast 50% der Menschen geteilten Widrigkeit des Lebens schwierig, von Krankheit zu sprechen. Solche Defizite kann man eher unglückliche Konstruktionsfehler des menschlichen Organismus nennen.[ds_preview]

„Plötzlich verläuft eine Grenze zwischen herkünftigen Hierbleibern und auswärtigen Weggehern.“

Politiker lieben es besonders, die Welt durch Neubestimmung von Begriffsumfängen zu ändern. Zur sogenannten „Diesel-Thematik“ hat ein besonders kluger Mann („Lieber nicht regieren, …“) den Vorschlag gemacht, neu darüber nachzudenken, wann Luft „verschmutzt“ sei. Und bezogen auf den Lehrermangel scheinen manche gerade neu darüber nachzudenken, ob man das unscheinbare Wörtchen „qualifiziert“ nicht auch in einem etwas weiteren Sinn verwenden kann als bislang üblich.

Um Mangel ging es auch in einer Radionachricht, mit der ich neulich geweckt wurde. Der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt kündigte an, bei einem „Treffen der Ost-Ministerpräsidenten“ (so etwas gibt es) den Vorschlag zu machen, dass Medizinstudienplätze künftig „nach Herkunft“, also bevorzugt an Landeskinder vergeben werden. So würden mehr examinierte Mediziner im Land verbleiben und dem drohenden oder bereits existierenden Ärztemangel entgegengewirkt.

Dazu wurde im Radio noch der „Ost-Beauftragte“ der Bundesregierung (auch so etwas gibt es) befragt. Der hieß die Vorschläge des Ost-Ministerpräsidenten (so darf man wohl sagen) mit den Worten gut, es studierten ja in den „neuen Bundesländern“ tatsächlich eine recht hohe Zahl von „Auswärtigen“ Medizin, sodass es schon verständlich sei, wenn man im Sinne der regionalen Ärzteversorgung hier gegensteuere.

Wie wunderbar! Was Sprachveränderung nicht alles vermochte. Plötzlich verlief durch die eben noch fröhlich vereinte Gruppe der hier ansässigen Medizinstudierenden die sprachliche Grenze zwischen herkünftigen Hierbleibern und auswärtigen Weggehern – und bei dieser Grenze handelte es sich, fast 30 Jahre nach der sogenannten Wende, um die gute, alte Grenze zwischen BRD und DDR.

„Man muss nicht eine größere Zahl von Landeskindern Medizin studieren lassen, sondern die Arbeits- und Lebensmöglichkeiten in Ärztemangelgebieten müssten verbessert werden.“

Unangreifbar ist Sprachveränderung allerdings keineswegs. Sie beruht ja meistens auf einem bestimmten Blick auf die Welt, der unserem eigenen Blick auf jene erst einmal standhalten muss. Im fraglichen Fall ging man offenbar davon aus, dass Studierende aus dem Westen Deutschlands nach dem Ende ihres Studiums im Osten in aller Regel in ihre „Herkunftsländer“ (auch so ein Sprachveränderungswort) zurückkehren.

Da kann man fragen, ob dasselbe dann nicht umgekehrt auch für Studierende aus dem Osten gelten müsste, die im Westen studieren. Das ist offenkundig eine Frage, die sich entweder mit Ja oder Nein beantworten lässt.

Beantwortet man die Frage mit Ja, könnte man die heimatliebenden Landeskinder unseres Bundeslandes ja ganz beruhigt auch anderswo studieren und dann ohne weiteres zur Behebung des Ärztemangels nach Hause zurückkehren lassen. Der ganze Aufwand mit den besonderen Landeskinderstudienplätzen erschiene überflüssig.

Beantwortet man die Frage mit Nein, kommt man beim genaueren Nachdenken über den angenommenen mehrheitlichen Verbleib der Ost-Kinder in der Fremde wohl schnell darauf, dass bei der Wahl des Arbeitsortes, insbesondere bei Akademikern, die Nähe zum Geburtsort weniger den Ausschlag geben könnte als die Attraktivität der Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten am potentiellen Arbeitsort. Die Grenze verläuft hier wohl weniger zwischen Ost und West als zwischen infrastrukturell besser bzw. schlechter eingebetteten Arbeitsorten, also etwa zwischen Stadt und Land, bzw. eher blühenden und eher brachliegenden Landschaften.

Auch bei einem Nein folgt somit, dass man nicht eine größere Zahl von Landeskindern Medizin studieren lassen muss, sondern wohl die Arbeits- und Lebensmöglichkeiten in Ärztemangelgebieten unseres Bundeslandes verbessert werden müssten. Das hat als ganz und gar herkunftsunabhängige Maßnahme den Charme, ganz ohne Sprachveränderung und ohne die mit dieser einhergehenden Grenze zwischen Ost und West auszukommen. Und ungefähr auf diese vernünftige Weise scheint es die Landesregierung Sachsen-Anhalts inzwischen auch zu sehen, jedenfalls darf man so wohl eine entsprechende Kabinettsinitiative aus der vergangenen Woche interpretieren.

Man kann also der Sprachveränderung mit einem eigenen Blick auf die Welt entgegentreten und, wenn es sich so ergibt, die aus der veränderten Sprache abgeleiteten Folgerungen oder aber sogar den Sinn der Sprachveränderung selbst bestreiten. Wer dies in dieser Sache bis zum Ende treiben wollte, müsste sich wahrscheinlich die Mühe machen, die Ansiedlungswilligkeit frisch examinierter Mediziner erst einmal wissenschaftlich genau zu untersuchen.

Auch da werden allerdings Hürden zu überwinden sein, wie nicht zuletzt die eingangs erwähnte Blutdruck-Thematik zeigt. Denn offenbar ist das verlässlichste Mittel zur Absenkung des gemessenen Blutdruckwerts eine nochmalige Messung. Dann liegen die Werte durchschnittlich schon um mindestens 8 mm Hg niedriger, was wohl ungefähr der Wirkung eines üblichen Medikaments entspricht. Und so wird es wohl auch bei den Medizinern sein: Es kommt bei Untersuchungen zu ihrer Ansiedlungswilligkeit in der Fremde entscheidend darauf an, dass man sie nicht nur einmal befragt – wenn sie gerade neu hier ankommen, aus dem Lande, oder von weiter her.

Und man darf bei der Erklärung der Daten unerwartete Erklärungen für das Gemessene nicht aus dem Blick verlieren. Es ist bekannt, dass hohe Blutdruckmesswerte bei vielen Patienten zum Teil so zu erklären sind, dass sie sich über die erfolgende Messung aufregen (sogenannter „Weißkitteleffekt“). Ganz sicher wird es auch so sein, dass ein Teil der Daten, die man zur Ansiedlungswilligkeit angehender Mediziner/-innen erheben wird, allein durch die Tatsache erklärt werden können, dass man jene auf eine bestimmte Weise befragt hat. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Befragung in jener Sprache erfolgt, die alte Mauern zwischen Ost und West hochzieht, welche jene jungen Menschen vielleicht gar nicht mehr gesehen hatten. Denn auch beim Stellen von Fragen verändert Sprache potentiell die Welt der Befragten. Und nicht immer sind diese so frei, dass sie dem ihren eigenen Blick auf die Welt entgegensetzen, schon gar nicht, wenn sie nur Kreuzchen setzen dürfen.

„gut in gewisser Hinsicht ist ja noch nicht in jeder Hinsicht gut.“

P.S. Ein freundlicher Leser hat auf meine Überlegungen zum Beschriften von Häusern mit Erinnerungen an von ihm wertgeschätzte Graffitis in Halle reagiert. Ich habe mich zum Teil miterinnert und mitgefreut. Es war außerdem klug erkannt, das alles, was ich damals über das Häuserbeschriften sagte, wohl auch für die gelungenen unter den so oft gescholtenen Graffitis gelten kann.

Ehrlicherweise hatte ich mich in meiner Kolumne sogar bewusst darum gedrückt, diese Implikationen genauer zu durchdenken. Denn „gut in gewisser Hinsicht“ ist ja noch nicht in jeder Hinsicht gut. Und ich muss zugeben, dass für mich persönlich das Problem ungelöst ist, wann der Eingriff in fremdes, zum Teil öffentliches Eigentum durch etwaige positive Aspekte solcher Eingriffe aufgewogen werden könnte.

Gewöhnlich bin ich hier sogar eher skeptisch. Es scheint mir gerade der Witz – und der tiefere moralische Sinn – von Eigentum zu sein, dass es eine Freiheit gewährt, die sich nicht allein deshalb einschränken lassen muss, weil dadurch ein zusätzlicher Nutzen erreicht werden könnte. Wenn morgen jemand mein meist auf der Straße bloß herumstehendes Auto für eine Urlaubsreise annektieren dürfte, weil so der persönliche und mithin auch der gemeine Nutzen enorm gesteigert würde, beschliche mich sofort der Verdacht, dass jenes Auto nicht mehr mein Eigentum sei.

Aber diese Überlegung liegt zugegebenermaßen auf einer sehr generellen Ebene. Und so berücksichtigt sie noch nicht die Besonderheiten und von dem kommentierenden Leser insbesondere angesprochenen Werte, die bei der anarchischen, eigentumsverletzenden Zeichenverwendung im öffentlichen Raum, also bei Graffitis, hervorgebracht werden.

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