Warum Häuser beschriften?

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StäZ-Kolumnist Arne Moritz, Foto: Simone Henninger

Am 6. Januar dieses Jahres hat die StäZ an den 100. Todestag Georg Cantors und an dessen Leben und Wirken als Mathematiker in Halle erinnert. Einer der engsten akademischen Freunde und Gesprächspartner Cantors in Halle war der Philosoph Edmund Husserl (1859–1938).

Husserl erlebte seine Zeit in Halle wohl vor allem als krisenhaft und niederdrückend. Das lag, soweit man weiß, nicht an der Stadt. Als Husserl 1886 nach Halle kam, hatte er vielmehr Schwierigkeiten damit, sich wissenschaftlich grundlegend neu zu orientieren. Er war ursprünglich wie Cantor Mathematiker. Mit dem Umzug nach Halle hatte Husserl sich aber intensiver der Philosophie zugewandt. Sowohl größere akademische Resonanz wie ein eigenes Vertrauen in das auf dem neuen Arbeitsfeld Geleistete blieben aber erst einmal aus.[ds_preview]

Husserls Ehefrau Malvina berichtete später, dass ihrem Mann in den schwierigen Jahren in Halle regelmäßige Spaziergänge an den Franckeschen Stiftungen vorbei wichtig gewesen seien. Er habe die goldene Inschrift, oben am Giebel des historischen Waisenhauses, in seiner damaligen Lebenssituation als so ermutigend empfunden, dass er regelmäßig unter ihr entlang gehen wollte.

Stich des Portals der Franckeschen Stiftungen um das Jahr 1749 von Gottfried August Gründler.

Das Zitat an den Stiftungen, „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler“ stammt aus der Luther-Übersetzung des biblischen Buchs Jesaja (40, 31). Die „Bibel in gerechter Sprache“ übersetzte die Stelle vor einigen Jahren mit: „Aber die auf Gott hoffen, gewinnen neue Kraft, sie steigen auf mit Flügeln wie Adler.“ In einer Fußnote wird man dort darauf hingewiesen, dass im hebräischen Text gar nicht die Rede von Adlern, sondern von Geiern sei. Aber man kann ja durchaus nachvollziehen, warum dies schon von Luther nicht genau so wiedergegeben wurde. Wie dem auch sei: Ich habe in Halle schon ein paar Mal Menschen getroffen, denen die Worte an den Franckeschen Stiftungen in ihrem Leben auf ähnliche Weise wie Husserl wichtig gewesen sind.

Der Philosoph Edmund Husserl während seiner halleschen Jahre, um 1900. (Foto: unbekannt)

Husserl hätte die Worte aus der Bibel vermutlich durchaus auch zu Hause nachlesen können – er war jüdischer Herkunft und im Jahr seines Umzugs nach Halle zum Protestantismus konvertiert. Und doch wollte er die Verheißung vom adlergleichen Fliegen nicht in der Heiligen Schrift daheim, sondern als Inschrift am Stiftungsgebäude wiederlesen.

Wenn wir Häuser beschriften, fügen wir ihnen offenkundig eine Ebene der Bedeutung hinzu, die sie vorher nicht besitzen. Aber Husserls regelmäßige Spaziergänge zu den Schriftzeichen an den Franckeschen Stiftungen in Halle scheinen darauf hinzuweisen, dass wir – jedenfalls manchmal – auch den Worten zusätzliche Bedeutung verleihen können, indem wir sie auf Häuser schreiben.

Husserl fand auf seinem akademischen Weg, der ihn 1901 aus Halle fort und über eine Professur in Göttingen an die Universität Freiburg i.Br. führte, nicht nur in einem gewissen Umfang wissenschaftliche Zuversicht wieder, sondern auch in hohem Maße äußere Anerkennung. Auf der Grundlage der in Halle entstandenen Studien konnte er letztlich eine eigene philosophische Richtung begründen, die er Phänomenologie nannte und die ihn mindestens in dem Maße berühmt machte wie den weiterhin in Halle lehrenden Georg Cantor dessen mathematischen Entdeckungen.

Ungebrochen blieb Husserls Glück allerdings nie. Einer seiner beiden Söhne fiel im ersten Weltkrieg, der andere Sohn, Juraprofessor und Rechtsphilosoph, verlor wegen seiner jüdischen Herkunft während des Nationalsozialismus sein Amt und musste in die USA emigrieren. Auch Edmund Husserl selbst musste am Ende seines Lebens neben dem für jüdische Wissenschaftler geltenden Publikationsverbot ein Lehrverbot durch die Nationalsozialisten ertragen und teilweise fehlende Solidarität seiner wichtigsten Schüler.

Höhenflüge wie ein unverletzlicher Adler hat Edmund Husserl also wohl auch nach seiner Zeit in Halle nicht erlebt. Sein regelmäßiger Gang an den Franckeschen Stiftungen entlang zeigt uns dennoch wie das Beschriften von Häusern Menschen in ihrer Selbstdeutung und Selbstentwicklung unterstützen kann. Auf ein Haus muss allerdings zu diesem Zweck wohl mehr als ein bloßer Name aufgemalt werden. Malwine Husserl hat jedenfalls nie darüber berichtet, dass ihr Mann von der unter dem Jesaja-Zitat angebrachten Inschrift „Franckens Stiftungen“ besonders angezogen gewesen sei.

Vielleicht hat das Wissen um den Entstehungszusammenhang der Worte am Giebel der Stiftungen aber dennoch den Reiz für Husserl und andere mit bewirkt, jene Worte genau dort wiederlesen zu wollen. Man kann es ja durchaus so sehen – und soll es vermutlich im Sinne der Erbauer sogar so sehen, dass das mächtige Haus aus genau jener Haltung der religiösen Hoffnung hervorgegangen ist, deren Lohn die biblischen Worte schon prophezeien, so dass das Bibelwort durch das Haus gewissermaßen beglaubigt und die Erbauer durch das Bibelwort nachträglich geehrt werden.

Mich persönlich hat allerdings diese historisch-religiöse Dimension des Zuwachses an Bedeutung, die das Zitat an seinem Ort am Franckeplatz erfährt, nie besonders ergriffen. Ich führe meine persönliche Faszination durch die unter dem Dach angebrachten Worte eher darauf zurück, dass sie meinen Blick aus den Tiefen des Platzes nach oben führen und dort im Gold der Schrift und einer strahlenden Sonne verharren lassen, so dass in sinnlich spürbarer Weise genau das zu geschehen scheint, was die Worte prophezeien. Und ich vermute, dass es gerade die Öffentlichkeit des Platzes ist, die mir das Gefühl geben, ich sei es, mit dem da durch die Inschrift gesprochen und dem etwas Zukünftiges versprochen werde. Denn durch in der Öffentlichkeit Gesprochenes fühlen wir uns in der Regel angesprochen, auch wenn diese Konvention angesichts lautstarken Mobiltelefonierens, mit dem man gerade nicht gemeint ist, unverbindlicher zu werden beginnt.

Warum also Häuser beschriften, mit mehr als ihrem Namen, oder einer schnöden Funktion, Waisenhaus, Finanzamt, Sporthalle, Schwimmhalle? Weil die Bedeutung der Worte erweitert wird durch das Haus wie umgekehrt die Bedeutung des Hauses durch die Worte. Weil die räumliche Inszenierung von Worten an Häusern Erfahrungsräume eröffnet, welche die sinnliche Erfahrung von Bedeutungsschichten dieser Worte ermöglicht. Und weil Häuser gewöhnlich in der Öffentlichkeit stehen und eine Wirkung der Öffentlichkeit ist, dass wir uns von den Worten angesprochen fühlen.

Husserl hätte das so natürlich nicht gesagt, aber mir scheint, dass er es auf seinen Spaziergängen in Halle so erfahren haben könnte.

Dieses Plastikteil – ein Mitnehmer – fehlt manchmal. Skizze: Arne Moritz

P.S. Ein aufmerksamer, befreundeter Leser hat mir übrigens einen analogen Kommentar zu meiner Kolumne über das Fehlen zukommen lassen. Er ließ mir über einen Internethändler genau jenes Teil für die Küchenmaschine zuschicken, über dessen dauerndes Abhandenkommen ich seinerzeit geklagt hatte. Mir fehlte es ja damals auch an einer geeigneten Bezeichnung. Auch in dieser Hinsicht schuf die von meinem Freund veranlasste Warensendung Abhilfe. Der Kunststoffbeutel mit dem Teil war beschriftet. Dieses nennt sich „Mitnehmer“. Ich muss zugeben, dass ich einen ausgefalleneren Namen erwartet hatte. Aber der technikkundige Freund, der mir das Teil geschickt hatte, meinte das sei eben der Fachbegriff für ein Teil mit genau dieser Funktion, beim Drehen ein anderes Teil mitzunehmen. So kann man es natürlich auch sehen. Ich bin jedenfalls begeistert über diese Art des Leserkommentars, die meinen Haushalt höchst sinnvoll ergänzt. Vielleicht sollte man so die Kommunikation im Netz revolutionieren: Antworten Sie mit einem Geschenk!

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Albrecht Pohlmann
6 Jahre her

Lieber Arne Moritz – danke für die Erinnerung an Husserl. Wußte nicht, daß er auch mal in Halle war. – Aber ich möchte auf etwas anderes hinaus: neben den Inschriften und Gedenktafeln, den „relativ ewigen“ Beschriftungen gibt es ja noch die unzähligen ephemeren, oft bloß als „Schmierereien“ bezeichneten, von denen manchmal ähnliche Kraft ausgehen kann. Jahrelang war am Rathenauplatz gesprüht: „Igitt, Du hast ein Handy!“ Das kann ich heute noch nachfühlen. Wie recht hatte jener Anonymus! Und wie habe ich gelacht über die Kombination von Spruch und Kommentar in der Geiststraße: „Perückenmann, wir kriegen Dich!“ – und drunter, klein-bescheiden von… mehr lesen »