Kommentar: Offene Gesellschaft stärken, statt Schuld auf sie abzuwälzen

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Hunderte Menschen schützen am Freitag symbolisch die Synagoge von Halle. Nicht die offene Gesellschaft ist schuld am 9. Oktober. (Foto: jr)
Es kommentiert StäZ-Redakteur Felix Knothe. (Foto: StäZ)

Oberbürgermeister Bernd Wiegand (Hauptsache Halle) hat am Dienstag alle eventuellen Schuldfragen, die man im Zusammenhang mit dem Terroranschlag von Halle stellen kann, klar für sich beantwortet: Nicht eventuell die Behörden, sondern die offene Gesellschaft insgesamt habe versagt. Wiegand sprach gar vom „System der offenen Gesellschaft“, das verantwortlich sei. Denn ihm sei es nicht gelungen, den Attentäter vorher aufzuspüren und so den Anschlag von Halle zu verhindern. Man kann nicht erschrocken genug sein über diese Form der Bewältigung des dramatischen und auch traumatischen Geschehens vom 9. Oktober.

Da exkulpiert ein Amtsträger mal eben sich und jegliche Verantwortungsträger, noch bevor die dringend nötige Aufarbeitung überhaupt Fahrt aufgenommen hat und wälzt die Schuld – von der wohlgemerkt noch gar nicht feststeht, wer überhaupt welchen Teil davon trägt – auf alle und jeden ab. Auf die offene Gesellschaft gar, also auch die Menschen, die seit vergangenem Mittwoch in Halle und an vielen Stellen im Land und in der Welt zeigen, wie Solidarität mit Jüdinnen und Juden in Deutschland aussehen kann und muss und wie man den unschuldigen Opfern des rechtsextremen Terrors über alle Milieus und religiöse Überzeugungen hinweg in Einigkeit gedenken kann. Die Zeit nach dem Anschlag ist bisher eine Sternstunde der offenen Gesellschaft in Halle. Und, ja, auch die Stadt trägt aktiv dazu bei. Sie werde ihre Aktivitäten im Kampf gegen Antisemitismus und Radikalismus stärken, so Wiegand. Gut so.

Dennoch: Schuldfragen werden gestellt werden müssen, ob es Stadtverwaltung und Landesregierung passt oder nicht. Der Einsatz von Polizei und kommunalen Rettungskräften am 9. Oktober steht dabei nicht so sehr im Fokus. Wer will ernsthaft Sekunden oder Minuten zählen oder einem Polizisten oder Stabsmitarbeiter, der im Einsatz innerhalb von Sekunden schwerwiegende Entscheidungen in einer unübersichtlichen Lage treffen musste, nachträglich eine theoretisch bessere vorhalten? Die Polizei hat den Täter – lebend! – gefasst. Er muss sich nun in einem rechtsstaatlichen Verfahren für seinen Taten verantworten. Das ist das Verdienst der Polizei am 9. Oktober, für das sie jede Gratulation verdient hat.

Schwer wiegt jedoch die nachhaltig geäußerte Kritik der Jüdischen Gemeinde, Sicherheitsbehörden und Politik hätten die Wünsche nach Schutz nicht ernst genug genommen. Der Präsident des Zentralrats der Juden Josef Schuster hat wohl Recht: Wäre ein Polizeiwagen an Jom Kippur prophylaktisch an der Synagoge gewesen, er hätte den Täter mutmaßlich abgeschreckt, überhaupt dorthin zu kommen; mit höchster Wahrscheinlichkeit hätte er aber das Geschehen am Dönerimbiss verhindern können. Die Synagoge aber war offensichtlich nicht ausreichend geschützt. Verantwortlich dafür ist die Landesregierung. Aber auch ein Oberbürgermeister kann sich nicht im Nachhinein für gänzlich unzuständig für die Sicherheitslage in der Stadt erklären. Zumal, wenn die Sicherheit, wie in Halle, seit sieben Jahren, explizit Chefsache ist. Auch die Stadt kann Sicherheitsbeurteilungen vornehmen, für mehr Schutz eintreten und das Ihrige dafür tun. Um zu erkennen, dass jüdische Einrichtungen im von zunehmendem Antisemitismus und Rechtsextremismus geprägten Deutschland ein potenzielles Anschlagsziel sind, dazu musste man kein Prophet sein. In Sachsen-Anhalt hat hier jedoch eher naive Hoffnung als sicherheitspolitischer Realismus geherrscht.

Und haben Land und Stadt wirklich alles ihnen mögliche für nachhaltige Bildungsarbeit und Prävention gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus getan? Auch darüber muss geredet werden, schon allein, um den Nährboden für Taten wie diese in der Zukunft unfruchtbar zu machen.

Nein, nicht die offene Gesellschaft ist schuld am 9. Oktober. Sie muss in Halle und Sachsen-Anhalt dringend gestärkt werden, anstatt die Schuld auf sie abzuwälzen. Oberbürgermeister Bernd Wiegand hat bei seiner Pressekonferenz am Dienstag äußerst fahrlässig formuliert und auch die Chance verpasst, seine Aussage auf Nachfrage geradezurücken. Er sollte es schnellstmöglich nachholen.

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siggivonderheide@me.com
4 Jahre her

Es passt doch: Donald T. Wiegand ist nicht Schuld, die „offene Gesellschaft“ hat Schuld. Gab es jemals ein einziges Ereignis, an dem nur eine einzige Partei, ein/e einzige/r Beteilgter / Betroffene/r schuld war? Herr Donald T macht es sich leicht wie es sein grosses Vorbild in den USA es auch macht. Himmel… und Zwirn, wie dumm darf jemand sein der Oberbürger*innenmeister ist. Schuldzuweisungen sind erstens unproduktiv frü eine konstruktive Bewältigung der Sitauation und zweitens grundsätzlich falsch: Sündenbock jagen ist Sache der Rechten, nicht die eines Demokraten. Die gesellschaftliche Verarbeitung eines solchen Ereignisses so simpel abzutun ist mehr als nur Bequemlichkeit.