Letzte Rede im alten Stadtrat: „Hinterfragen, warum sich Menschen abwenden.“

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Stadtratsvorsitzende Katja Müller (Linke) hält die letzte öffentliche Rede im Stadtrat. (Foto: xkn)

Halle/StäZ – Angekündigt war sie nicht. Sie stand auch nicht auf der Tagesordnung. Und doch ließ es sich Stadtratsvorsitzende Katja Müller (Linke) am Mittwoch in der letzten Sitzung des Stadtrats vor Ende der Wahlperiode nicht nehmen und trat, als fast alles vorbei war, ans Rednerpult. Es wurde eine kurze, aber prägnante Rede, ein persönliches Resümee der zurückliegenden fünf Jahre, vorgetragen von der obersten Repräsentantin der Stadt. Müller redete dabei sowohl dem Stadtrat ins Gewissen, richtete aber auch eine verklausulierte, aber deutliche Ansage in Richtung AfD: Intoleranz dürfe nicht hingenommen werden.

Überraschend war die Rede auch, weil vorher in der Sitzung kaum etwas daran erinnert hatte, dass der Stadtrat hier zum letzten Mal in dieser Besetzung zusammen kam, bevor am kommenden Mittwoch die neu gewählten Räte ein neues Gremium konstituieren. Geschäftsmäßig wurde die Tagesordnung abgehandelt. Auch die scheidenden Räte hielten keine Abschiedsreden. Oberbürgermeister Bernd Wiegand (Hauptsache Halle) hatte ebenfalls in der Sitzung keine öffentlichen Worte gefunden, um die demokratische Zäsur, die eine ablaufende Wahlperiode mit sich bringt, zu würdigen. Gelegenheit dazu hätte es genug gegeben. Und auch während der Rede Müllers nahm er daran offenbar wenig Anteil.

Wir dokumentieren das Redemanuskript in voller Länge:[ds_preview]

Liebe Stadträtinnen und Stadträte, Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren,

mit der heutigen Sitzung endet die fünfjährige Wahlperiode des Stadtrats Halle. Hinter uns liegen fünf Jahre, in denen wir für unsere Stadt (nicht immer aber meistens) konstruktiv miteinander gearbeitet, diskutiert und gestritten haben.  Wir haben viel zusammen auf den Weg gebracht, wir haben uns manchmal aber auch gegenseitig blockiert und Knüppel zwischen die Beine geworfen. Wir haben uns übereinander geärgert und miteinander gelacht. Wir waren meistens motiviert, hatten aber auch sicherlich manchmal  „die Schnauze voll“. Kurzum: Wir haben politisch und auch persönlich alles mitgenommen, was Kommunalpolitik nun mal zu bieten hat. Für einige  – auch für mich – waren es ganz neue Erfahrungen.

Ich glaube, wir sind uns darin einig, dass die vergangenen fünf Jahre auch Zeiten rasanter gesellschaftlicher Veränderungen waren. In unserer Stadtgesellschaft, in Sachsen-Anhalt, in der Bundesrepublik, europa- und weltweit. Die Welt von heute ist eine andere, als die von 2014. Politik und Gesellschaft stehen vor gewaltigen Herausforderungen: Soziale Verwerfungen haben zugenommen, die politischen Gräben sind tiefer geworden, an den Grundfesten der Demokratie wird gerüttelt, wir erkennen, dass Klima- und Umweltschutz eine grundlegende Herausforderung für uns alle ist, weil es sonst bald keinen Planeten mehr gibt, der sich noch irgendwie gestalten lässt.

Auch wir hier im Stadtrat Halle müssen uns diesen Herausforderungen widmen. Gleichzeitig befindet sich Politik in einer Legitimations- und Glaubwürdigkeitskrise. Wir müssen uns hinterfragen, warum sich Menschen abwenden, warum sie politische Institutionen als sinnlose „Quatschbuden“ empfinden, warum Fake-News und einfache Wahrheiten verfangen. Kurzum: Wir müssen uns hinterfragen, was wir vorleben. Dauerzoff zwischen einem Stadtrat und einem Oberbürgermeister ist mit Sicherheit kein Mittel, um Vertrauen in Politik zurückzuholen. Ich möchte heute und an dieser Stelle davon ausgehen, dass wir alle wissen, wie sehr wir jeweils vor unserer eigenen Haustür zu kehren haben.

Ich möchte mich bei allen Stadträtinnen und Stadträten für ihre Arbeit in den vergangenen fünf Jahren bedanken. Denen, die dem neuen Stadtrat nicht mehr angehören werden, wünsche ich alles Gute für ihren weiteren Weg und zukünftige Aufgaben. Im Namen des Stadtrates möchte ich mich darüber hinaus bei der Verwaltung, den Beigeordneten und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – insbesondere vom Team Ratsangelegenheiten –  bedanken.  Mein Dank geht auch an die Schülerfirma, die immer unser leibliches Wohl im Blick hatte, und an jene, die sich mit unseren IPad- und Technikproblemen herumgeschlagen haben.

Ich bedanke mich bei den Vertreterinnen und Vertretern der Medien. Auch Sie haben tragen mit Ihrer Berichterstattung große politische und gesellschaftliche Verantwortung  und dafür wünsche ich Ihnen auch in Zukunft ein gutes Händchen.

Nicht zuletzt möchte ich mich bei allen Hallenserinnen und Hallensern bedanken, die sich einmischen, unsere Arbeit mitverfolgen, sie konstruktiv und kritisch begleiten. Sei es als Zuschauer bei TV Halle, in den Einwohnerfragestunden oder als Akteur*innen von Vereinen, Bürgerinitiativen Organisationen und Institutionen. Mischen Sie sich weiter ein – nur so sind wir in der Lage, im Sinne der Stadt und Ihrer Menschen zu handeln. Und ja, wir müssen es abkönnen, uns als Politiker*innen auch mal beschimpfen zu lassen. Bedrohungen und Beleidigungen dürfen hingegen kein Mittel sein.

Wie sich unsere Gesellschaft verändert hat, zeigt sich auch ein Stück weit an der Zusammensetzung des neuen Stadtrats. Von „Zersplitterung“ ist die Rede. Dass es schwerer wird, Mehrheiten zu finden. Ich denke, wir werden nicht anders können, als die Chance, die diese neue Zusammensetzung auch bietet, zu erkennen und zu ergreifen. Eine Chance für mehr Diskurs, mehr gesellschaftlichen Ausgleich, mehr Kompromissbereitschaft im Sinne der Sache und im Sinne der Stadt und der Menschen, die hier leben.

Ich persönlich glaube daran, dass dies vor allem mit Empathie und Toleranz gelingen kann.  Woran ich aber auch glaube, möchte ich abschließend mit einem Zitat des Philosophen Karl Popper aus seinem Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ deutlich machen:

„Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“

In diesem Sinne herzlichen Dank und alles Gute!

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amaskb@yahoo.de
4 Jahre her

Normalerweise tangieren mich persönlich Redebeiträge in unserem Stadtrat wenig – ich bin ja nicht dabei und hatte bisher wenig Gelegenheit, darüber zu lesen. Dass ich nun von der abgedruckten Rede der Stadtratsvorsitzenden sehr beeindruckt bin, liegt vor allem daran, dass sie kritisch und ehrlich auf ihre Arbeit schaut und sich nicht zu schade ist, „vor der eigenen Haustür zu kehren“. Solch eine Rede macht Mut!