„Ohne Integration auf Augenhöhe schaukeln Konflikte sich hoch“

Im Jahr 2017 haben Soziologen per Einwohnerumfrage die Befindlichkeiten der Hallenserinnen und Hallenser untersucht -- mit teilweise verstörenden Ergebnissen. Ein Gespräch mit dem Autor der Studie Tobias Jaeck unter anderem über die Angst vor Fremden trotz Wirtschaftsaufschwungs.

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Halle/StäZ – Wie ticken die Hallenserinnen und Hallenser? Die Menschen in der Saalestadt zählen wohl zu den am besten soziologisch vermessenen Großstadtbewohnern in Deutschland. Seit 1993 beobachten Forscher des Zentrums für Sozialforschung, eines Aninstituts der Uni Halle, die Sichtweise der Bevölkerung auf ihre Stadt. Nach einigen Jahren Pause ist in diesen Tagen die neueste dieser Einwohnerumfragen veröffentlicht worden. StäZ-Reporter Felix Knothe sprach darüber mit dem Autor Tobias Jaeck. Der Soziologe hat die Umfrage im Auftrag der Stadt durchgeführt und ausgewertet. Im Gespräch erläutert er wichtige Erkenntnisse, etwa zu weit verbreiteten xenophoben Einstellungen aber auch zur deutlich gestiegenen Zufriedenheit mit der wirtschaftlichen Lage. [ds_preview]

Tobias Jaeck, Soziologe am Zentrum für Sozialforschung Halle (Foto: ZSH)

Herr Jaeck, nach langer Zeit gibt es wieder eine Einwohnerumfrage für Halle. Sie haben die Gemütslage der Hallenser vermessen. Wie geht es uns?
Den Hallenser*innen geht es so gut, wie lange nicht, sie sehen aber auch viele Probleme. Wir können das ziemlich gut nachvollziehen, denn unsere Studie gibt es seit 1993. Das ist schon etwas Besonderes. Besonders ist auch die hohe Zahl der Befragten. Wir haben knapp 6.000 Hallenser*innen angeschrieben, und über 38 Prozent haben geantwortet. Auch das ist im Vergleich zu anderen Umfragen besonders. Unser Fragebogen ist außerdem so gestaltet, dass die Bürger auch merken, dass wir an ihrer persönlichen Meinung interessiert sind.

Eine der ersten Zahlen, die öffentlich geworden ist, ist die Zahl 46,3. So hoch ist der Prozentanteil der Hallenser, die der Aussage nicht zustimmen, dass die Einwanderung von Migranten nach Halle größere Unterstützung finden sollte. Ist Halle fremdenfeindlicher geworden in den letzten Jahren?
Deutschlandweite Erhebungen ergeben seit langem das Bild, dass Menschen den von ihnen empfundenen Ausländeranteil deutlich höher einschätzen, als die tatsächliche Ausprägung in ihrem Umfeld. Halle hat dem gegenüber wie viele ostdeutsche Städte einen relativ geringen Ausländeranteil. Allerdings hat er sich in den letzten Jahren praktisch – auf immer noch niedrigem Niveau – verdoppelt. Das war ein sehr schneller Anstieg. In der kurzen Zeit gab es aber nur wenig Integrationsmöglichkeit. Die Situation hier ist also nicht gewachsen, wie in Frankfurt oder anderen westdeutschen Großstädten, wo es einfach zum Stadtbild dazugehört. Daran müssen sich die Hallenser*innen erst einmal gewöhnen. Aber Halle sticht nicht fremdenfeindlicher heraus als andere ostdeutsche Großstädte.

Quelle: Einwohnerumfrage Halle 2017/ZSH

In der Flüchtlingsdebatte hatte man ja immer ein wenig das Gefühl, Halle sei die Insel der Seligen in Sachsen-Anhalt. Der Eindruck war: Bisher hat die Integration recht gut geklappt. Der Oberbürgermeister hat das Thema gut moderiert…
…er hat sich auch darum gekümmert, im Gegensatz zu anderen Kommunen…

… und jetzt solche Zahlen. Ist das ein Rückschlag?
Es ist das normale Bild, das sich deutschlandweit abbildet. Die Bevölkerung beschäftigt sich sehr stark mit Flüchtlingsfragen. Es ist zumeist weniger Fremdenfeindlichkeit, sondern eher Xenophobie. Phobie heißt Angst, und bei den allermeisten ist es die Angst vor dem Ungewissen, davor, „was auf uns jetzt zukommt“. In Ostdeutschland beobachten wir das bei unseren Forschungen sehr oft: Es gibt hier immer noch eine Kultur der Unsicherheit, bei der die Menschen dazu neigen, die Verantwortung nach oben abzugeben. Das ist typisch ostdeutsch und könnte womöglich eine politische Kulturfolge der DDR sein, als man sich um die großen Sachen ja gar nicht kümmern konnte oder durfte. Der Staat wird folglich immer noch mehr in der Verantwortung gesehen, als beispielsweise in westdeutschen Regionen.

„Die AfD vertritt einen Teil der Bevölkerung, dem das Thema Flüchtlinge im Moment sehr wichtig ist.“

Heißt die Zahl 46,3 Prozent, dass umgekehrt die Mehrheit der Aussage zustimmt, also ausländerfreundlich gesinnt ist?
Nein. Es gab auf diese Fragen fünf Antwortmöglichkeiten, von „stimme gar nicht zu“ bis „stimme voll und ganz zu“. Von Zustimmung spricht man eigentlich nur bei denen, die positiver als „teils, teils“ geantwortet haben. Das sind lediglich rund 25 Prozent bei dieser Frage. Das ist aber kein ungewöhnlicher Wert. Es ist, wie gesagt, ein deutschlandweites Phänomen, dass Menschen bei der Frage eigentlich immer mehrheitlich sagen: Jetzt ist es aber gut.

Ergebnisse der Sonntagsfrage aus November und Dezember 2017 in Halle. (Quelle: Einwohnerumfrage Halle 2017/ZSH)

Würde sich so eine hintergründige Xenophobie auch in Wahlergebnisse manifestieren?
Am Erfolg der AfD sieht man das eindeutig. Die Partei hat ja auch gar kein anderes Thema. Das ist eine Ein-Themen-Partei. Wenn das Thema wegbräche, müsste sie sich anders profilieren. Aber sie vertritt einen Teil der Bevölkerung, dem dieses Thema im Moment sehr wichtig ist. Allerdings sieht man auch an den Umfragewerten, dass der Erfolg der AfD sehr stark von der öffentlichen Wahrnehmung des Flüchtlingsthemas abhängt. Ist dieses Thema weniger präsent, wie vor rund vier Monaten, gehen auch die AfD-Werte nach unten – und umgekehrt. Der Erfolg der AfD korreliert sehr stark mit aktuellen Entwicklungen in der Flüchtlingspolitik. Bei einer anderen Umfrage auf Landesebene haben wir gesehen, dass vor ein paar Jahren noch Themen wie Arbeitsmarkt und wirtschaftlicher Aufschwung eine wichtige Rolle gespielt haben. Nur wenige Jahre später aber gab es nur ein Thema: Integration und die aktuelle Flüchtlingssituation. Streckenweise überlagerte es jedes andere Thema, das die Leute vorher umgetrieben hat. Das hat sich inzwischen schon wieder etwas gewandelt. Jetzt geht es doch wieder ein wenig mehr auch um andere Themen.

Um welche?
Arbeit und Wohnungsmarkt ist in Halle und in Sachsen-Anhalt zu einem wichtigen Thema geworden, das die Menschen umtreibt, vor allem in den Städten.

„Die Hallenser*innen glauben, dass Halle aus dem wirtschaftlichen Tal herausgefunden hat.“

Wie geht es den Hallensern wirtschaftlich?
Die Hallenser bewerten die wirtschaftliche Situation der Stadt so gut wie nie zuvor. Das ist besonders bemerkenswert, weil dieser Wert in den 1990er Jahren noch auf sehr niedrigem Niveau lag. 1993 lag er noch bei vier Prozent. Inzwischen liegt er bei 17,5 Prozent. Mittlerweile bewerten auch 60,5 Prozent der Hallenser*innen ihre persönliche Situation als gut oder sehr gut. Sie wird generell immer besser eingeschätzt als die Gesamtlage.

Quelle: Einwohnerumfrage Halle 2017/ZSH

Der letzte Wert ist von 2012. Damals lag der Wert für die Situation in Halle noch bei 8,7 Prozent. Lässt sich daraus ein Erfolg der Wirtschaftspolitik des derzeitigen Oberbürgermeisters ableiten?
Dass der letzte Wert so lange zurückliegt, hat damit zu tun, dass wir die Umfrage in den letzten Jahren nicht im üblichen Zweijahresrhythmus fortsetzen konnten. Das lag an Diskussionen innerhalb der Stadt, die ja die Auftraggeberin ist. In Zukunft soll es aber wieder eine Umfrage in regelmäßigeren Abständen geben. Der Anstieg in den letzten Jahren ist unabhängig davon aber dennoch sehr bemerkenswert und markiert eine deutliche Trendwende. Noch deutlicher wird das, wenn man den Ausblick auf die nächsten fünf Jahre betrachtet: Hier erwarten 26,8 Prozent, dass die wirtschaftliche Situation dann gut oder sehr gut sein wird, noch einmal 12 Prozent mehr, ein enormer Zuwachs. Die Hallenser*innen glauben, dass Halle aus dem wirtschaftlichen Tal herausgefunden hat.

Woran liegt das?
Ich glaube, dass dafür verschiedene Einflüsse verantwortlich sind. Die ganze Bautätigkeit der vergangenen Jahre wird sicher als wirtschaftliche Dynamik wahrgenommen. Auch, dass die neue ICE-Schnelltrasse Berlin-München via Halle führt, dürfte einen Effekt haben auf die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Kraft der Stadt. Aber auch die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt und bei den Immobilienpreisen wird von den Menschen wahrgenommen, auch wenn es eher eine Kehrseite der wirtschaftlichen Entwicklung ist. Es wird immer mehr zum eigenen Thema. Eine Wohnung in Halle zu finden ist nicht mehr so leicht wie früher.

Noch einmal gefragt: Hat der Aufschwung in der Wahrnehmung auch mit guter Wirtschaftspolitik zu tun, wie es der Oberbürgermeister für sich reklamiert?
Es hat zumindest nicht nichts damit zu tun. Die Werte in der Einwohnerumfrage geben aber nur die subjektive Wahrnehmung der Hallenser also Einstellungsdaten wieder. Um genauere Aussagen dazu zu treffen, müsste man sich auch objektive Faktoren, also amtliche Statistiken anschauen: Bruttosozialprodukt, Einkommenssituation, Steuereinnahmen – solche Indikatoren eben.

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siggivonderheide@me.com
5 Jahre her

Soziologie ist eine Terminologie die zu ihrem eigenen Mißbrauch verwendet wird. Fragenkataloge die bestätigen was wir schon lange wissen anstatt Fragenkataloge die eine konstruktive Auseinandersetzung anregen oder dokumentieren oder, noch besser, die Handlungsperspektven eröffnen… Das wäre schön!