Wo sind sie geblieben: die guten Vorsätze?

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StäZ-Kolumnist Arne Moritz, Foto: Simone Henninger

In meiner bundesrepublikanischen Kindheit gab es kuriose Veranstaltungen, die man vermutlich Verbrauchermessen nannte. Solche Messen richteten sich direkt an Konsumenten und versprachen, unerhörte Neuigkeiten aus der Warenwelt zu präsentieren, noch dazu zu unglaublichen, nur kurzfristig verfügbaren Vorzugspreisen. Es gab dort tatsächlich erstaunliche Produkte zu bewundern. Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Set von Vorsätzen für die haushaltsübliche Bohrmaschine. Mit den Vorsätzen und einem entsprechenden Halter versprach die Bohrmaschine zur vollwertigen Drechselmaschine zu werden.[ds_preview]

Die Anbieter auf diesen Verkaufsveranstaltungen waren, anders als die angebotenen Waren, durchweg Unikate. Sie priesen ihre Produkte mit einer stimmlichen Variationsfähigkeit, einer kommunikativen Unmittelbarkeit und einem Mut zur Theatralik an, die mich auf einer ästhetischen Ebene so nachhaltig faszinierten, dass ich zur ausgiebigen heimischen Nachahmung angeregt wurde. Ich will nicht sagen, dass dies die einzige Quelle meiner rhetorischen Bildung war, aber es war doch eine frühe und wichtige.

Die guten Vorsätze zum Jahreswechsel kosteten nicht viel, und aus ihnen konnte auch nicht viel werden.

Abgesehen von ihren theatralischen Qualitäten erscheinen solche Messen heutzutage natürlich eher überflüssig. Ich glaube jedenfalls nicht, dass es sie noch gibt, und denjenigen, die sie immer noch besuchen wollten, würde ich dort kaum begegnen wollen. Ich vermute nämlich, dass es sich weniger um Freunde der Rhetorik handeln würde als um Hinterwäldler, die nicht das Schicksal von uns in jeder Hinsicht zeitgemäßeren Zeitgenossen teilen, die wir über das Internet quasi in Echtzeit zur Genüge mit Informationen über Innovationen in der globalen Produktionswelt und über entsprechende globale Erwerbsmöglichkeiten informiert, also quasi permanent, wie man jetzt sagt, influenced werden.

Vorrichtung zur Herstellung viereckiger hartgekochter Eier. Zeichnung: Arne Moritz

Mit den Bohrmaschinenvorsätzen und anderen Messeprodukten jener Zeit war es ohnehin auch schwierig. Sie hielten zwar bei vorschriftsmäßiger Anwendung erstaunlicherweise technisch meist, was ihre vollmundigen Anpreiser versprochen hatten. Aber das Leben der Käufer war ja nun doch in den meisten Fällen nicht so, dass es viel Anlass und Raum für das heimische Drechseln bot – oder für hartgekochte Eier in Würfelform, und so weiter. So verstaubten die Vorsätze, Plastikformen und andere Käufe von den Verbrauchermessen oft jahrelang ungenutzt in heimischen Regalen. Man konnte sich darüber aber wenigstens mit dem vermeintlich konkurrenzlos günstigen Anschaffungspreis trösten.

So ähnlich war es eigentlich auch immer schon mit den guten Vorsätzen zum Jahreswechsel. Sie kosteten nicht viel, aber aus ihnen konnte nicht viel werden, weil sie zum jeweiligen Leben, wie es nun einmal war, meist nicht passten und an dessen objektiver Basis auch nichts änderten. Weniger rauchen oder trinken, aber an der psychischen Disposition, die nach übermäßiger oraler Befriedigung verlangt, nicht arbeiten wollen; mehr Sport treiben, aber weiter ein Leben führen wollen, das nur Unkörperlichem Wert beimisst; weniger Überstunden machen, aber weiter über Lohnarbeit Schuldendienst an der Wohnimmobilie leisten wollen; friedfertiger sein wollen, aber weiter Lebensziele ausnahmslos in einer hierarchisch und über Konkurrenz organisierten Arbeitswelt verorten – das waren immer schon Projekte, die wohlfeil, aber von vorne herein zum Scheitern verurteilt waren.

Das wirklichkeitsfremd Utopische derartiger Vorsätze bestand immer schon darin, dass sie glaubten, die Welt hauptsächlich in Gedanken verändern zu können. Wer aber im neuen Jahr drechseln will, braucht nicht nur Holz und Vorsätze für die heimische Bohrmaschine, sondern muss im Gesamtzusammenhang seines Lebens Raum und Möglichkeiten für Drechselprojekte schaffen.

Ich höre aber von guten Vorsätzen zum Jahreswechsel ohnehin in den letzten Jahren kaum noch. Natürlich arbeiten sich in diesen Tagen Radiosendungen und Zeitungskolumnen (!) zuhauf an dem Thema ab. Reale Menschen hingegen, die nicht gerade von Redakteuren befragt oder imaginiert werden, scheinen von der Formulierung solcher Vorsätze weitgehend abgekommen zu sein. Mutmaßlich ist es aber nicht die Einsicht in die Hoffnungslosigkeit zu idealistischer Vorsätze, welche die Zeitgenossen von der Fortführung dieses Neujahrsbrauchs abgebracht hat. Denn in Reaktion auf jene Einsicht könnte man ja durchaus weiter Vorsätze artikulieren, die jedoch nach einem stärkeren Fundament in der Veränderung der Wirklichkeit des eigenen Lebens suchen müssten.

Der gute Vorsatz verlangt nach einem Leben, dass zur Unterordnung momentaner Vorlieben unter Prinzipielleres  bereit ist. Mir scheint diese Bereitschaft ziemlich umfassend abhandengekommen zu sein.

Ich vermute deshalb, dass eher andere Veränderungen die guten Vorsätze zum Verschwinden gebracht haben müssen. In vielerlei Hinsicht passen sie ja tatsächlich nicht mehr in unsere Zeit und in das Leben, das wir führen, und die Mehrheit der Menschen, die auf die Formulierung guter Vorsätze verzichtet, scheint dem immerhin auf stumme Art und Weise Rechnung zu tragen. Wollte man das Verschwinden der guten Vorsätze aber sogar noch einmal zur Sprache bringen, könnte man vielleicht bei den beiden folgenden Gedanken anknüpfen:

Zum einen ist der gute Vorsatz ja eine mittel- bis langfristige Zielorientierung höherer Ordnung. Er ist ein Grundsatz, den ich mir für die Zukunft vornehme und den ich über meine zukünftigen momentanen Vorlieben und Vorhaben, aber auch über die Forderungen anderer an mich stellen will, um diese Vorlieben und Vorhaben und die Forderungen anderer an jenem Grundsatz zu messen. In diesem Sinn verlangt der gute Vorsatz nach einem Leben, dass zu solcher mittel- bis langfristiger Unterordnung momentaner Vorlieben und Vorhaben oder Forderungen anderer unter Prinzipielleres überhaupt bereit ist. Mir scheint diese Bereitschaft, man verzeihe mir die pessimistisch klingende Diagnose, ziemlich umfassend abhandengekommen zu sein.

Zum anderen ist der gute Vorsatz ja nicht einfach alles und jedes, was ich mir für die Zukunft vornehme. Der Zusatz „gut“ drückt aus, dass ich einen solchen Vorsatz entsprechend einem Guten geformt haben muss, das von mir selbst unabhängig ist – sonst könnte ich ja einfach von einem Vorsatz sprechen. Insofern verlangt der gute Vorsatz auch noch nach einem Leben, das Maßstäbe des Guten anerkennt, die außerhalb der eigenen Festlegungen und Wünsche liegen. Und auch diese zweite Voraussetzung für gute Vorsätze scheint mir schon länger nicht gerade in Mode zu sein.

Hier wären also zwei Ansätze zur Erklärung für die Verdrängung der guten Vorsätze in die Folklore der Radiosendungen und Kolumnen. Vielleicht handelt es sich aber bei diesen medialen Ritualen der Erinnerung an die guten Vorsätze auch nicht nur um Folklore, sondern eben auch um den Ausdruck der Sehnsucht nach einem anderen Leben – welcher ja letztlich schon immer den Subtext der Artikulierung guter Vorsätze bildete.

Ich vermisse jedenfalls die aus der Zeit gefallenen guten Vorsätze, die mindestens in den zwei genannten Hinsichten von einem anderen Leben erzählen als dem, das wir führen, mindestens ebenso so stark wie die faszinierenden Rhetorikkünste der Marktschreier meiner Kindheit, die durch keinen zielgruppengerecht flötenden Influencer jemals erreicht werden dürften.

Dieser Text ist eine Kolumne von Arne Moritz in der Städtischen Zeitung. Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten sind nicht Teil der Redaktion. Ihre Beiträge geben daher ausschließlich ihre eigene Meinung wieder.

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