Über die Freiheit – im Zugabteil

0
StäZ-Kolumnistin Juliane Uhl, Foto: Knut Mueller

Ich sitze im Zug zwischen Köln und Frankfurt. Außer mir ist noch eine junge Frau in dem Abteil. Sie liest eine Zeitung, Modern Times Review. Sie spricht deutsch, sie liest englisch. Ich habe mir den Tisch ausgeklappt und versuche mich in John Stuart Mills Gedanken über die Freiheit zu finden. Das kleine gelbe Reclam-Buch hat es in sich, denn fast jeder Satz birgt eine Weisheit, die vor 150 Jahren aufgeschrieben wurde und dringend wieder entdeckt werden sollte.

An der Haltestelle Frankfurt-Flughafen gesellt sich ein Mann im Anzug zu uns. Er packt sein Notebook auf den Tisch, setzt sich lässig auf den Platz am Gang und schlägt die Beine übereinander. Dann hebt er eines seiner beiden Smartphones an das Ohr und beginnt ein Gespräch. [ds_preview]Er hat eine tolle Stimme, so eine, die man in der Werbung einsetzt, tief und eindringlich, eine Stimme, der man sich nicht entziehen kann. „Hi, ich muss dir zwei drei Dinge erzählen“ sagt er. Er meint nicht mich, er meint nicht mich, er meint nicht mich. Doch seine Stimme dringt zu tief in meinen Kopf. Mill kann ich vergessen, der ist schon beim ersten Ton geflohen. So höre ich nun jeden Satz des beruflichen Telefonats. Mein Reclam-Buch werfe ich merklich auf den Tisch und ich versenke meinen Kopf in meiner Hand, damit ich ungesehen aber heftig die Augen verleiern kann. Die junge Frau, die ich noch hinter der Zeitung vermute, sagt bestimmt: „Können Sie draußen telefonieren?“ Er antwortet bestimmt: „Nein!“. Sie sagt weniger bestimmt, aber deutlich: „Arschloch!“ Er telefoniert weiter. Ich verstecke mich hinter dem gelben Büchlein und wünsche mir, dahinter zu verschwinden. Als das Telefonat beendet ist, stellt der Herr beide Füße auf den Boden, sieht nicht mehr ganz so lässig aus und entschuldigt sich. Jetzt ist Ruhe. Aber lesen kann ich trotzdem nicht mehr, denn mir offenbarte sich eine Freiheitsfrage, die täglich tausendfach auf den Klapptischen der Deutschen Bahn liegt: Wessen Freiheit wiegt mehr?

Es ist erlaubt in der Bahn, also im öffentlichen Raum, zu telefonieren. Es ist nicht verboten, still zu sein. Und ich selbst tue mal das eine und mal das andere. Jedoch, wenn ich meine Ruhe haben möchte, stört mich das Telefonieren der Anderen. Muss ich das aushalten, wenn ich es selbst auch tun will?

Stellen wir uns den Menschen als ein Wesen in einer Blase vor. Kommen andere dieser Blase zu nah, gibt es ein Distanzproblem. Den richtigen Abstand zu einer Person wissen wir auf Grund unserer Kultur und Erziehung einzuschätzen. Mit genügend Empathie spürt man, wenn man jemandem zu nah kommt. Unsere akustische Blase indes ist wesentlich größer, und wir teilen sie mit anderen Leuten, zum Beispiel in diesem Abteil. Unsere Räume überschneiden sich. Es ist im Grunde die gleiche Diskussion wie im Schlafzimmer, wenn die Frau noch lesen und der Mann schon schlafen will. Nur dass es in diesem Fall weniger der Ton sondern mehr das Licht ist, das stört. Inzwischen gibt es E‑Reader, die dieses Problem durch eine integrierte Beleuchtung lösen. Aber beim Telefonieren dringen wir noch immer in den Raum der anderen ein. Wir können nicht so leise sprechen, dass es die anderen im Abteil nicht hören. Manch einen Mitfahrer stören die Nebengeräusche überhaupt nicht. Andere hingegen springen schon an die Zugdecke, wenn der Sitznachbar zu laut atmet.

Wessen Freiheit wiegt also mehr? Keine, lautet meine unbefriedigende Antwort. Es ist eine Frage der Rücksichtnahme, des guten Benehmens und vor allem des Aushandelns. Wir sollten wohl wieder mehr miteinander reden. Und grundsätzlich sollten wir öfter daran denken, dass ein Zug eben auch nur ein Raum ist, in dem man endlich mal Ruhe vor dem Ehepartner hat.

0 0 votes
Article Rating
Subscribe
Benachrichtigen Sie mich zu:
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments