Sind die Reiniger auch rein?

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StäZ-Kolumnist Arne Moritz, Foto: Simone Henninger

Ich trainiere seit einiger Zeit, in Reaktion auf gewisse, schmerzhafte Eskapaden meines Rückens, die ich möglichst nicht wiedererleben möchte, in einem Fitnessstudio. Das ist für viele Menschen, die mir nahe stehen, schon für sich genommen eine Nachricht. Wenn ich es zum ersten Mal erzähle, zeigen ihre Mienen, dass sie sich – Rücken her oder hin – fragen, warum ich mit so etwas Hirnlosem meine Zeit vergeude. Ich denke dann, dass wenn überhaupt jemand, dann doch wohl gerade ich ein Recht auf eine solche hirnlose Zeitvergeudung habe. Immerhin denke ich ja berufsbedingt üblicherweise fast den ganzen Tag über ziemlich schwierige Gedanken nach.

Und außerdem fordern die im Fitnessraum gemachten Erfahrungen mich ohnehin auch regelmäßig zum Nachdenken heraus. Zum Beispiel trainiere ich neuerdings mit einer dieser Laufmaschinen, deren Griffe man beim Laufen auf der Stelle vor und zurückführen muss. Im Fitnessstudio wird peinlich darauf geachtet, dass man nach der Nutzung die Handgriffe des Geräts mittels einer in einer Plastiksprühflasche bereitgestellten Flüssigkeit und mit Hilfe von ebenfalls zur Verfügung gestellten Papierhandtüchern entkeimt.[ds_preview]

Das warf für mich unmittelbar die Frage danach auf, ob überhaupt und durch wen und womit denn die Reinigungssprayflaschen selbst desinfiziert werden – und ob man nicht durch deren Nutzung sich und andere erst recht ernsthaft in Gefahr von Keimübertragung bringt. Praktisch reagierte ich auf dieses Problem gewieft, indem ich begann, die Fitnessstudiosprayflaschen beim Desinfizieren mit einem Papierhandtuch anzufassen.

Ist das Fragenfass erst einmal geöffnet, ergeben sich immer neue Fragen.

Diese indirekte Sprayflaschennutzung wird im Fitnessstudio allerdings ziemlich argwöhnisch beäugt. Mich selbst erinnert sie an den Gebrauch eines liturgischen Geräts, das ich einmal in einer Synagoge kennenlernte. Es handelte sich um einen Krug zur rituellen Reinigung der Hände mit zwei Griffen, der kunstfertig gebraucht die Wiederverunreinigung der bereits gesäuberten Hand durch Nutzung eines zweiten, sauberen Griffs verhindern sollte. Natürlich dachte ich damals auch sofort: wenn da mal nicht irgendjemandem, nur ein einziges Mal, die Griffe durcheinandergeraten. Und doch ist meine Papierhandtuchtaktik auf ähnliche Weise verwundbar. Denn wer entkeimt wohl die von mir naiv als rein vorausgesetzten Papierhandtücher?

Offensichtlich droht diese Art von Denken leicht ins Endlose zu gehen. Ist das Fragenfass erst einmal geöffnet, ergeben sich immer neue Fragen. Wer desinfiziert die Plastikhandschuhe im Backladen? Und wer reinigt die, die die Handschuhe reinigen? Und was ist „rein“? Und so weiter. Ad infinitum.

Das naiv Vorausgesetzte so kritisch in Frage zu stellen, führt in Krisen des Denkens, die sich ein wenig wie revolutionäre Umstürze anfühlen. Mit einem Mal kommen Überzeugungen in Bewegung, die vorher so normal waren, dass man nicht einmal wusste, dass man sie besaß. Jetzt bemerkt man aber, dass ein ganzes Gedankengebäude auf ihnen ruht.

Solche Krisen sind durchaus wertvoll. Die Frage nach der Reinheit der Reiniger und meine Papierhandtuchtaktik mag zwar nicht jeder als gewichtigen Fortschritt in Angelegenheiten der Hygiene ernst nehmen wollen. Aber nehmen wir ein anderes Beispiel: Filterblasen, jene Kommunikationsräume, vorzüglich im Internet, in die nur das hineindringt, was wir immer schon geglaubt und gemocht haben. Sie sind derzeit in aller Munde. Die über Filterblasen Schreibenden und Lesenden scheinen interessanterweise aber durchweg vorauszusetzen, selbst außerhalb einer Filterblase zu agieren. Genau dies ließe sich als Vorausgesetztes in Frage stellen – was zum besseren Verständnis dessen, was eine Filterblase ist, vermutlich einen enorm wertvollen Beitrag leisten würde.

Es hat allerdings nicht nur sein Gutes, in Frage zu stellen, was naiv vorausgesetzt wurde. Wenn man die Uferlosigkeit dieses Fragens nicht in den Griff bekommt, führt es zu keinem guten Ende. Diese Gefahr ist ziemlich ernst zu nehmen, da wir so gut wie keine Überzeugungen kennen, die nicht von anderen abhingen und somit nicht für das Gift der Infragestellung empfänglich wären.

Der Zweifel wird bewusst eingesetzt, um eine Krise zu erzeugen.

So gibt es auch Filterblasen, in denen gerade das Spiel der unbegrenzten Infragestellung des Vorausgesetzten exzessiv gespielt wird. Ich erinnere mich, wie ich im Sommer 2015 mit erheblicher Faszination die Forumsdiskussionen auf der Website einer Lokalzeitung verfolgte. Dort wurde ernsthaft vertreten, dass ein vermeintliches Verbrechen, von dem jemand gehört hatte, nicht allein deshalb ausgeschlossen werden könne, weil die Strafverfolgungsbehörden mitgeteilt hätten, das vermeintliche Opfer sei wohlauf. Dabei werde ja vorausgesetzt, dass Strafverfolgungsbehörden nie versuchen würden, Verbrechen zu vertuschen. Auch als eine gleichlautende Äußerung des Arbeitgebers des vermeintlichen Opfers bekannt wurde, das übrigens am Arbeitsort Opfer des Verbrechens geworden sein sollte, ließ man auch dies nicht gelten. Dabei würde ja vorausgesetzt, dass man überhaupt auf die Aussage eines Dritten hin darauf vertrauen könne, jemand sei nicht Opfer eines Verbrechens geworden.

Diese Art von Infragestellung des Vorausgesetzten ähnelt dem wahnhaften Denken. Denn sie kann außer der banalen Inanspruchnahme der Möglichkeit des Gegenteils keine guten Gründe für ihren Zweifel anführen. Aber auch wenn es logisch möglich ist, dass die Polizei ein Verbrechen vertuscht, dieses – hier und jetzt – anzunehmen, verlangt nach einer besseren Begründung als dem bloßen „könnte doch sein“.

Natürlich ist die wahnhafte Form der Infragestellung des Vorausgesetzten in den meisten Fällen keine psychiatrische Krankheit, sondern ein Werkzeug. Der durch Gründe nicht weiter zu deckende Zweifel wird auf der Basis der nackten logischen Möglichkeit bewusst eingesetzt, um diejenige Form von Krise zu erzeugen, die mit dem Wanken von Gedankenfundamenten einhergeht.

Und so müssen wir künftig wohl immer sorgsamer unterscheiden, zwischen der erkenntnisförderlichen Krise des kritischen Denkens, auf die wir wohl kaum verzichten wollen, und dem ungedeckten Scheck der wahnhaften Infragestellung des Vorausgesetzten, der uns nur deshalb angeboten wird, um das Kleingeld der Erschütterung unserer Überzeugungen einzukassieren. Den Sprayflaschen im Fitnessstudio sieht man’s nicht an, wie rein sie sind. Der Zweifel aus unreiner Absicht hingegen verrät sich dadurch, dass er letztlich immer Zuflucht zum „möglich ist es schon“ nehmen muss.

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U. Geiß
6 Jahre her

Danke für diese Worte gegen das vermeintliche Totschlagargument aller Verschwörungstheoretiker!

Albrecht Pohlmann
6 Jahre her

Lieber @uwegeiss, „Verschwörungstheoretiker“ ist ein Kampfbegriff, der von jeweils interessierten Kreisen gegen Skeptiker vorgebracht wird, welche die offiziellen Verlautbarungen beispielsweise zu Verlauf und Hintergründen von Terroranschlägen, militärischen Operationen oder Wirtschaftskrisen bezweifeln. Früher hieß so etwas „Investigativer Journalismus“ oder einfach: „Kritisches Denken“. Wer Grund hat, solche Kritik zu fürchten, diskreditiert sie neuerdings durch Vermischung mit offensichtlichen Spinnereien wie den „Chemtrails“. Dem entgeht auch der Kolumnist nicht ganz, indem er einen – zweifellos selbstironisch überhöhten – „Reinheitswahn“ mit Zweifeln an der Richtigkeit polizeiamtlicher Verlautbarungen zusammenbringt. Dabei geht es mir nicht um den konkreten Fall – in dem ich dem Kolumnisten zustimme –… mehr lesen »