Jennifer Sonntag: „Wir alle sind doch Kunst, gezeichnet vom Leben.“

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In Halle zu leben heißt sich Gedanken über die Stadt zu machen. Das ist nur natürlich. Jennifer Sonntag, Inklusionsbotschafterin und Autorin ist blind und sieht die Stadt dadurch auch durch eine sehr persönliche Perspektive. Trotzdem findet sie diese wundervoll bunt und eine wahre Sinnesfreude. Volly Tanner sprach mit ihr über Barrieren, die Liebe, Erotik, Bücherberge, Sehgewohnheiten, Fachpersonal und Halle an sich.

Jennifer Sonntag ist Inklusionsbotschafterin der IG Selbstbestimmt Leben in Deutschland, Foto: privat/malsehen.media

Guten Tag, Jennifer Sonntag. Du bist Hallenserin und Inklusionsbotschafterin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland. Was macht denn solch eine Inklusionsbotschafterin den ganzen Tag so?
Als Inklusionsbotschafterin berate und berichte ich rund um Barrierefreiheit und Teilhabe für Menschen mit Behinderungen. Grundsätzlich bin ich nicht gern die, die meckert, sondern die, die macht. [ds_preview]Zu meinen Aufgaben gehört aber auch, Missstände aufzuzeigen. Deshalb muss ich manchmal, ganz gegen meine friedliebende Natur, etwas aufrührerisch werden. Ich arbeite zu einem sehr großen Teil journalistisch, biete aber auch Vorträge, Seminare und Workshops innerhalb Mitteldeutschlands an. Dabei möchte ich sowohl Menschen mit Behinderungen einschließen als auch nichtbehinderte Interessierte einladen, auch das ist für mich Inklusion. Ich bin Botschafterin für barrierefreie Medienlandschaften, engagiere mich für Zugänge zu Kunst und Kultur, zu Bildung, zu Politik, Gesellschaft und zu gesundheitlicher Versorgung. Im Rahmen meiner Tätigkeit arbeite ich aber auch an verschiedenen Buchprojekten zur Selbststärkung Betroffener. Ich befasse mich gern mit Schönem, um das Unschöne besser beim Kragen packen zu können. So wird im nächsten Jahr der Stilratgeber „Der Geschmack von Lippenrot“ erscheinen, in welchem ich blinde, aber auch sehende Frauen dazu ermutige, auf die Suche nach ihrem inneren Spiegelbild zu gehen.

Ich kenne in Firmen abgestellte Mitarbeiter für Barrierefreiheit, die haben noch nie mit einem einzigen behinderten Menschen gesprochen und andere sind noch gar nicht bereit, sich diesem Thema überhaupt zu stellen.

Seit 2008 moderierst Du zwei mdr-Sendungen: „Selbstbestimmt! Leben mit Behinderung“ und den Promi-Talk „SonntagsFragen“. Denkst Du, dass das Thema Leben mit Behinderung ausreichend in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird? Was kann noch getan werden?
Lieber Volly, innerhalb der Sendung „Selbstbestimmt!“ moderiere ich die „SonntagsFragen“, die es als Langfassung auch im Netz gibt. Mittlerweile durfte ich über 80 Prominente auch zu den Themen: selbstbestimmtes Leben, Diskriminierung, persönliche Ängste und Wimpernschläge des Glücks befragen. Es ist bereichernd, konventionelle Denkräume zu verlassen und andere Wahrnehmungsebenen zu betreten. Mein Moderatorenkollege bei „Selbstbestimmt“ ist Martin Fromme, der durch einen fehlenden Unterarm selbst auch gehandicapt ist. Wir sind zwei von ganz wenigen behinderten Mediengestaltenden vor der Kamera. Das zeigt schon, dass dieses Thema leider noch immer ziemlich unterbelichtet ist. Die „echten“ Menschen mit Handicap, die in der Fernsehlandschaft regelmäßig vorkommen, kann man an einer Hand abzählen und die Sendeplätze sind auch oft eher „Randgebiet“. Es wäre schon wünschenswert, wenn es allein hier mehr selbstverständliche Begegnung und Bewegung, mehr Inklusion und Inspiration geben würde, denn von Vielfalt profitieren letztlich alle, nicht nur innerhalb der Medienlandschaften. Generell kann ich sagen, dass durch die Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes viel in Bewegung gekommen ist, dass es aber auch noch viel zu tun gibt. Wenn wir davon ausgehen, dass jeder achte bis zehnte Bundesbürger von Behinderung betroffen sein wird, geht uns das Thema alle etwas an. Ich versuche in meiner Aufklärungsarbeit so einfach wie möglich über mein Leben zu erzählen, in lebendigen Beispielen, denn Verständnis erreicht man nur über Geschichten und Gesichter. Kein Mensch möchte sich akademische Wälzer über Behinderungen durchlesen. Direkte Kommunikation ist ganz wichtig. Ich kenne in Firmen abgestellte Mitarbeiter für Barrierefreiheit, die haben noch nie mit einem einzigen behinderten Menschen gesprochen und andere sind noch gar nicht bereit, sich diesem Thema überhaupt zu stellen.

Du selber bist blind. Wir lebt es sich als Blinde in Halle? Wirst Du von den Zuständen behindert?
Wenn man in einer Stadt lebt, ist ja das Wunderbare, dass man sie selbst mit gestalten kann. Als ich damals im Prozess der Erblindung steckte, engagierte ich mich z.B. mit einem Projektteam für die Braille-Gehegebeschriftungen des Halleschen Zoos, begleitendes Audiomaterial und Führungen für blinde und sehbehinderte Besucher. Ich war lange in Halle auch kulturell engagiert, etwa im Neuen Theater, und informierte in unterhaltsamen Dunkellesungen über die Belange blinder Menschen. Im Kunstforum Halle durfte ich eine inklusive Ausstellung zur ersten fotodokumentierten Modenschau mit blinden Models unterstützen und generell mit vielen Künstlerinnen und Künstlern der Stadt zusammenarbeiten. Über dieses Medium lassen sich Barrieren wesentlich lebendiger thematisieren und auch ausräumen. Im fachlichen oder institutionellen Kontext ist das langwieriger und schwerfälliger. Da werde ich in der Tat oft behindert. Als Sozialpädagogin war ich ja selbst 16 Jahre in einem helfenden Beruf und habe sehr viel für Menschen ermöglicht und um die Ecke gedacht. Aufgrund eines gesundheitlichen Einschnitts war ich nun selbst auf Hilfe angewiesen und bekam zu spüren, wie stark man in vielen Einrichtungen noch mit der Blindheit fremdelt. So wurde ich zum Beispiel in Kliniken nicht aufgenommen, da „es kein Personal für eine Patientin ohne Sehvermögen“ gab. Das hätte ich niemals für möglich gehalten, hätte ich es nicht selbst mehrfach erlebt.

Ich habe ein wahnsinniges Kopfkino. Literatur ohne Bilder funktioniert für mich irgendwie nicht, ausgerechnet als Blinde.

Ich kenne Dich als eine sehr faszinierende Autorin. Dabei beackerst Du auch das Thema Erotik sehr intensiv. Nun bist Du da ja weit mehr auf das Fühlen angewiesen und das Schmecken ・ als ich als Augenmensch zum Beispiel. Wie lässt Du Dein Sein in die Literatur hinein?
Weißt du, was ziemlich verrükt ist? Gerade in meinen erotischen Texten schreibe ich sehr stark in Bildern. Oft sagen meine Leser: „Wie kann denn das eine blinde Frau geschrieben haben, sie weiß doch gar nicht, wie das alles aussieht!“ Ich habe ein wahnsinniges Kopfkino. Da ich ja über 20 Jahre sehen konnte, ist das bildhafte Schreiben für mich auch der Versuch, das Sehen nicht zu vergessen. Aber es ist kein Krampf, diese Szenen stellen sich mir in einer Fülle dar, so bunt, so reich, dass meine Worte sich nur bedienen brauchen. Im Gegenzug litt ich schon manchmal sehr darunter, Bilder, Fotos oder Filme nicht mehr sehen zu können. Deshalb auch die intensive Zusammenarbeit mit Fotografen. Durch den aktiven Dialog über Perspektiven, Proportionen, Licht, Schatten und Wahrnehmung blieb ich immer Sehende. Mittlerweile lasse ich etwas los, habe aber angefangen, mit meinem Buch- und Lebenspartner Dirot meine inneren erotischen Bilder mit Kohle auf Papier zu zeichnen. Literatur ohne Bilder funktioniert für mich irgendwie nicht, ausgerechnet als Blinde. Deshalb engagiere ich mich seit Jahren auch für Bildbeschreibungen für blinde Menschen, nicht nur in Ausstellungen, in Bildungs- und Medienkontexten, sondern eben auch im Erotiksektor. Ich habe eine tolle Bildbeschreiberin, Franziska Appel, die meine erotischen Kohlezeichnungen für Nichtsehende beschreibt. Jeder blinde Mensch darf natürlich für sich entscheiden, wie wichtig ihm Bildbeschreibungen sind. Wer sich für meine erotische Literatur interessiert und unsere „Вlind-Galerie“ besuchen möchte, kann sehr gern auf www.Liebe-mit-Laufmaschen.de vorbei schauen. Aber Achtung, prüde darf man nicht sein!

Im Netz gibt es Deine Plattform www.blindverstehen.de – um was geht es da konkret? Was findet der interessierte Mensch da?
Auf dieser Plattform trage ich mein etwas züchtigeres Kleid und stelle meine Projekte rund um den Erblindungsprozess vor, obwohl ich auch dort für ein lustbetontes und sinnliches Leben stehe. Die Seite ist eine Einladung für sehende Besucher, die sich auf meine Wahrnehmungswelt einlassen möchten. Aber sie soll auch Betroffenen Mut machen und Kraft schenken. Wir alle brauchen ja manchmal diese inneren Lichtschalter. Ich stelle auf der Seite meine Medienarbeit, meine Seminare  und meine Bücher vor, auch die fachlichen Veröffentlichungen. Es gibt eine Hör-Bar und alle Kapitel aus meiner autobiografischen Auseinandersetzung „Verführung zu einem Blind Date“, in denen ich gnadenlos ehrlich erzähle, wie z.B. Flirten, Shoppen und Stylen blind funktionieren, wie man sich Farben vorstellt und wie man träumt. Zum Glück habe ich meine Gefühle damals dokumentiert, da ich mich heute aus bestimmten Phasen der Verarbeitung herausentwickelt habe, und immer, wenn ich mich in meine erblindenden Kursteilnehmer einfühlen möchte, lese ich in meinen eigenen Büchern nach.

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Dirk Dirot
6 Jahre her

Feines Interview Volly !