Bürgerentscheid: Wo wollen Sie in Zukunft zum Amt gehen?

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Parallel zur Bundestagswahl findet am Sonntag Halles erster Bürgerentscheid statt. In der Frage, die den Wählerinnen und Wählern gestellt wird, geht es um ein Hochhaus in Halle-Neustadt, die Scheibe A. Aber natürlich geht es nicht nur um ein Hochhaus. Es geht um die Zukunft der Stadtverwaltung, es geht um Geld, und es geht um Macht.

Die fünf Scheiben-Hochhäuser sollen eigentlich das architektonische Zentrum Neustadts sein. Als Ruinen sind vier davon bis heute jedoch ein Schandfleck. Foto: StäZ

Die Scheibe A

Die Scheibenhochhäuser im Zentrum Halle-Neustadts wurden Anfang der 1970er Jahre gebaut. Die Architekten der Neubaustadt sahen in den fünf Hochhäusern das Zentrum und das moderne Pendant, manche sagen auch den modernen Widerpart, zu den berühmten fünf Türmen des alten Halle. Scheibe A entstand 1972 und wurde bis 1998 als Studentenwohnheim genutzt. Mit rund 12.000 Quadratmetern Nutzfläche steht sie seitdem leer und verfällt – und ist praktisch herrenlos. Eine englische Gesellschaft, der Scheibe A gehörte, gilt als aufgelöst. Nur eine der Scheiben, Scheibe D, ist modernisiert worden und vermietet. Dort residiert das Jobcenter.

Weshalb kommt es zum Bürgerentscheid?

Im Frühsommer hat der Neustadt-Verein mit Unterstützung von Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos) ein erfolgreiches Bürgerbegehren durchgeführt und rund 7700 Unterschriften für die Idee gesammelt, in Scheibe A einen Teil der Stadtverwaltung unterzubringen. Zuvor war Bewegung in die verfahrene Eigentümer-Geschichte des Hochhauses gekommen: Ein Termin zur Zwangsversteigerung im Herbst bahnte sich an. Der Neustadt-Verein tritt dafür ein, diese Gelegenheit zu nutzen, und nicht, wie etliche andere zuvor, verstreichen zu lassen. Das erfolgreiche Bürgerbegehren hat jedenfalls dazu geführt, dass sich der Stadtrat mit dem Thema befassen musste. Da dieser wegen vieler offener Fragen – und sicherlich zum Teil auch aus taktischen Erwägungen (siehe „Der politische Hintergrund“) eine Entscheidung aber ablehnte, kommt es per Automatismus zum Bürgerentscheid. Die Kommunalaufsicht wollte diesen zuerst verhindern, unter anderem, weil es finanzielle Unklarheiten gebe, doch nach Anhörung des Oberbürgermeisters zog sie ihre Bedenken zurück. Der Entscheid darf stattfinden.

Die Abstimmungsfrage

Sind Sie dafür, dass die Stadt Halle (Saale) die sanierte Hochhausscheibe A in Halle-Neustadt als neuen Verwaltungsstandort zu einer Nettokaltmiete von maximal 9,90 Euro/m² pro Monat für einen Zeitraum von 30 Jahren anmietet?

Man kann mit „Ja“ oder „Nein“ stimmen. Der Entscheid ist für den Stadtrat und den Oberbürgermeister bindend, wenn die Mehrheit mit Ja stimmt und dabei die Ja-Stimmen mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten erreichen. Ein Rechenbeispiel: Wenn die Wahlbeteiligung  beim Bürgerentscheid über 50 Prozent liegt – was wegen der parallel stattfindenen Bundestagswahl wahrscheinlich ist – und es eine Ja-Stimme mehr als Nein-Stimmen gibt, ist der Entscheid gültig und angenommen. Anders als zur Bundestagswahl liegt das Mindestwahlalter bei 16 Jahren, und auch EU-Ausländer dürfen mitstimmen.

Die Fragen hinter der Frage

Der Bürgerentscheid wird einige Weichen stellen, die zwischen den Zeilen der Abstimmungsfrage schlummern.

Abriss oder Sanierung?
Immer wieder wird bei den Scheiben diskutiert, ob Abriss oder Sanierung das Beste wäre. Man kann aber kein einzelnes der fünf Hochhäuser abreißen, zumindest ist das aus architektonischen und städtebaulichen Gesichtspunkten bisher ein Tabu. Nur eine Scheibe zu sanieren, würde ebenso als Effekt verpuffen, wenn nicht alle saniert werden. Nun sollen die Bürger implizit über die Sanierung einzig von Scheibe A entscheiden. Stimmen sie mit Ja, wird eine Sanierung sehr wahrscheinlich. Stimmen sie mit Nein, könnte das auch die Perspektiven der anderen Hochhäuser schmälern. Der Zeitpunkt ist kritisch, denn dem Vernehmen nach scheint sich auch bei den anderen leerstehenden Scheiben etwas zu tun. Hier stehen Investoren in den Startlöchern – möglicherweise, muss man nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte sagen. Der Bürgerentscheid könnte also ein Fingerzeig für das ganze Ensemble sein.

Soll Halle-Neustadt Hauptzentrum der Stadtverwaltung werden oder nicht?
Mit dem Plan (siehe „Der Plan“) wäre eine tiefgreifende Umstrukturierung der Standorte der ganzen Stadtverwaltung verbunden. Die Bürger entscheiden also wesentlich darüber mit, wo sie in den nächsten 30 Jahren zum Amt gehen wollen: Wollen sie zum Großteil nach Halle-Neustadt fahren, wenn sie die städtischen Behörden erreichen wollen, oder ist eine Verteilung auf mehrere Stadtviertel besser?

Soll die Stadt einen privaten Investor finanzieren?
Beim Scheiben-Projekt steht, drittens, eine immer wiederkehrende Grundsatzfrage bei der Verwendung öffentlicher Gelder zur Debatte: Soll der Staat, in diesem Fall die Kommune, sich privater Investoren bedienen oder selbst bauen? Wiegands Plan ist zwar kein klassisches PPP-Projekt (öffentlich-private Partnerschaft), kommt ihm von Laufzeit und Arrangement aber ziemlich nahe. Ein Investor könnte mit Geld, das die Stadt nicht ohne weiteres hat, sanieren, im Gegenzug dafür mit fest planbaren Margen rechnen. PPP-Modelle haben in der Vergangenheit in Halle immer wieder für Diskussionen gesorgt, etwa bei der Schulsanierung oder dem Neubau des Finanzamts. Nun können erstmals die Bürger direkt darüber mitentscheiden. Ausgeschlossen ist unterdessen nicht, dass auch ein kommunales Unternehmen oder eines, auf das die Stadt zumindest Einfluss hat (wie die Sparkasse), in den Ring steigt. Die Stadt würde dann mittelbar Mieterin bei sich selbst.

Der Plan

Der Termin der Zwangsversteigerung von Scheibe A ist auf den 18. Oktober 2017 festgelegt. Mindestgebot sind 560.000 Euro. Ziel von Oberbürgermeister Bernd Wiegand ist es, dass ein Investor das Gebäude ersteigert, dann saniert und der Stadt fest für 30 Jahre vermietet. Der Maximalpreis ist in der Abstimmungsfrage festgeschrieben. Wer der potenzielle Investor sein könnte, darüber schweigt die Stadtverwaltung.

Zur Kalkulation des Projekts hat Wiegand seinen externen Berater Jens Rauschenbach beauftragt, mit dem Ziel, etliche der derzeit 26 Verwaltungsstandorte in Halle zusammenzuführen. Dessen Konzept vergleicht drei Varianten: ein Weiter-so-wie-jetzt-Szenario, einen Verwaltungsneubau auf dem derzeitigen Großparkplatz in der Schimmelstraße sowie die Anmietung einer sanierten Hochhausscheibe. Das Ergebnis: Bis zu einem Mietpreis von 9,90 Euro/m² ist die Scheibe die günstigere Variante.

In Scheibe A würden dann ab 2020/21 rund 450 Mitarbeiter der Stadt arbeiten. Der Standort „Am Stadion“, wo ebenfalls ca. 450 Mitarbeiter arbeiten, bliebe erhalten. Zwei Drittel aller städtischen Mitarbeiter würden dann in Halle-Neustadt arbeiten. Im Gegenzug würden jetzige Standorte geschlossen: zum Beispiel das Technische Rathaus am Hansering mit derzeit 220 Mitarbeitern, das derzeit ebenfalls angemietet ist (nach Auskunft der Stadt für über 10,86 Euro/m²), sowie das Sozialamt in der Südpromenade mit derzeit 98 Mitarbeitern. In vielen der Standorte herrschten hohe Betriebskosten und Investitionsstau.

Doch es gibt Kritik am Konzept. Viele Kritiker aus dem Stadtrat vermuten, Rauschenbach habe das Gutachten gezielt auf das Szenario Scheibe A hingeschrieben. Die Gegenüberstellung mit nur einem anderen Szenario deute in diese Richtung. Die Konzentration der Verwaltung sei zudem ausschließlich betriebswirtschaftlich betrachtet worden. Die Bedürfnisse der Bürger an eine nahegelegene Verwaltung hätten keine Rolle gespielt (siehe „Argumente dagegen“).

Die Kosten

Laut Stadt refinanzieren sich Umzug und Mietzahlungen über 30 Jahre durch die Einsparungen, die durch die Konzentration der Standorte entstehen. Die Differenz zwischen „Weiter so wie jetzt“ und einer zentralen Variante „Scheibe“ liege bei 41,1 Millionen Euro.

Dieses Geld könne in die Anmietung einer Scheibe investiert werden. So erklärt sich der Maximalmietpreis von 9,90 Euro/m², der in der Abstimmungsfrage enthalten ist.

Die Sanierung der Scheibe würde laut Gutachten 33,1 Millionen Euro kosten, die ein Investor aufbringen müsste. Bleibt also eine Gewinndifferenz von 8 Millionen Euro. Wie viel der Investor davon bekommt, hängt davon ab, wie hoch genau der Mietpreis festgesetzt wird, also auch vom Verhandlungsgeschick der Stadtverwaltung.

Seit 1998 steht Scheibe A leer und verfällt. Befürworter des Entscheids sehen darin die vielleicht letzte Chance, sie zu sanieren. Foto: StäZ

Argumente dafür

Der Bürgerentscheid ist die vielleicht letzte Gelegenheit, Scheibe A zu erhalten. Damit erhöhen sich auch die Chancen, dass die anderen Scheiben alle oder zum Teil saniert werden. Ein Ja für Scheibe A wäre also auch ein Ja zum Zentrum Halle-Neustadts. Die Bürger könnten eine Grundsatzentscheidung für die nächsten 30 Jahre treffen und damit einen für Neustadt dringend nötigen Impuls geben.

Die Kaufkraft der städtischen Mitarbeiter könnte das Zentrum Halle-Neustadts zusätzlich aufwerten.

Die Stadtverwaltung bekäme eine effizientere Standortstruktur, was zur Einsparung öffentlicher Gelder führt.

Die feste Miethöhe könnte auf lange Sicht ein wirtschaftlicher Clou sein.

Argumente dagegen

Ein 30-Jahres-Mietvertrag ist vor allem von Vorteil für den Investor.

Eine Miethöhe von 9,90 Euro ist derzeit nicht marktüblich.

Durch die Konzentration der Stadtverwaltung in Halle-Neustadt werden für Nicht-Neustädter die Wege länger.

Die Kaufkraft der städtischen Mitarbeiter geht der Innenstadt verloren.

In der Innenstadt könnte Leerstand von derzeit durch die Stadt genutzten Gebäuden entstehen.

Die offenen Fragen

Die Wähler können bei der Abstimmung nicht alle Konsequenzen überblicken. Das kann man wohl bei keiner Abstimmung. Aber manchmal hilft es, einige der offenen Fragen zu kennen:

Wer wird der Investor, der die Scheibe kauft und an die Stadt vermietet? Zu welchen Konditionen? (Einzige Richtgröße ist die Maximalmiete von 9,90 Euro.)

Wird der Mietvertrag 30 Jahre halten? Und was passiert, wenn nicht?

Welche Ämter sollen in Zukunft in die Scheibe A ziehen? (Das ist allein Sache des derzeitigen OB oder seiner Nachfolgerin bzw. seines Nachfolgers im Amt.)

Welchen Effekt hat die Entscheidung zur Scheibe A wirklich auf die anderen Scheiben? 

Welchen Effekt hat die Entscheidung zur Scheibe A wirklich auf Neustadt und die Innenstadt?

Der politische Hintergrund

Und dann ist da noch das allgemein Politische. Oberbürgermeister Bernd Wiegand hat den Bürgerentscheid zu seinem ganz persönlichen Anliegen gemacht. Für kaum ein anderes politisches Thema hat er sich in letzter Zeit öffentlich so ins Zeug gelegt, wohl auch mit Blick auf das Neustädter Wählerpotenzial. Knapp zwei Jahre vor der OB-Wahl 2019 will er hier ein Versprechen einlösen. Die Abstimmung ist aber auch ein allgemeiner Stimmungstest für den OB. Derzeit weiß niemand so richtig, wie es um die Popularität des Amtsinhabers bestellt ist, denn handfeste Erhebungen gibt es nicht. Fällt Wiegand mit seinem Anliegen bei den Bürgern durch, könnte das auch ein Fingerzeig für den noch in der Ferne liegenden Urnengang sein.

Der Bürgerentscheid könnte also von manchen Wählern zu einer Abstimmung über Wiegands Amtsführung im Allgemeinen gemacht werden. Es gibt nur wenige andere politische Kräfte in Halle, die das Anliegen offen unterstützen. Bei einem Ja fiele der Siegerlorbeer dem OB praktisch allein zu, ein Nein wäre praktisch seine alleinige Niederlage. Wohl auch deshalb wollten es die Fraktionen im Stadtrat auf eine Wählerabstimmung ankommen lassen. Nicht zuletzt wird das Ergebnis so auch Auswirkungen darauf haben, wie die OB-Kandidatenfrage in ihren Reihen diskutiert wird. Besonders in der CDU, aber auch bei der Linken gibt es zur Neustadt-Frage unterschiedliche Lager. Grüne und Mitbürger empfehlen geschlossen ein „Nein“.

Es geht also neben der Bundestagswahl um einiges, wenn die Hallenserinnen und Hallenser am Sonntag zur Wahlurne gehen.

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Scheibenweltler
6 Jahre her

Wirklich knifflige Sachlage und doch sehr übersichtlich aufbereitet von dir, Felix! An sich bin ich dafür, dass die Scheiben wieder hergerichtet werden und eine Scheibe für die Verwaltung genutzt wird. Derzeit kloppen sich die Leute ja um jeden Klotz mit Fenstern. Da sollte es die Lage doch entspannen, wenn Ruinen wieder bewohnbar gemacht werden. Andererseits, wo immer der Rauschenbach auftaucht, geht es doch eigentlich um ÖPP-Projekte. Dass die Stadt kein Geld zum Erwerb der Immobilie hat, kann kein Argument sein. Das hat ein Investor auch nicht. Beide müssen sich Geld borgen, nur die Stadt für günstigere Konditionen, weil sie sich nicht… mehr lesen »

Interessierte
6 Jahre her

Zunächst einmal vielen Dank für den wirklich informativen Artikel. Sehr gut recherchiert und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Werde hier jedoch keine Wertung abgeben, hoffe nur jeder nimmt sein Wahlrecht bei der Bundestagswahl und dem Bürgerentscheid wahr.