Neue Stolpersteine: Der Widerstand im Kleinen

Mit drei neuen Stolpersteinen will der Verein "Zeitgeschichten" die Schicksale von drei normalen Hallensern dem Vergessen entreißen.

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Stolperstein-Künstler Gunter Demnig hat die Gedenksteine am 28. November vor dem Haus Am-Güterbahnhof 1 verlegt. (Foto: xkn)

Halle/StäZ – Als der hallesche Schneider Hugo Arnholz sich 1941 weigerte, den gelben „Judenstern“ zu tragen, wurde er verhaftet. Er kam ins KZ Buchenwald und wurde am 12. März 1942 in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg in einer Gaskammer ermordet. Seine Frau Bertha Arnholz, geborene Lewin, konnte nur noch seine Asche auf dem Jüdischen Friedhof beisetzen. Wenig später wurde sie ins Vernichtungslager Sobibor deportiert und vergast. Beide wohnten im Haus Am Güterbahnhof 1 in der Nähe des halleschen Hauptbahnhofs.

Der pensionierte Jurist Simon Schwarz verbrachte seine letzten Tage in Halle ebenfalls dort. Zuvor hatte er seine Wohnung am Weidenplan 9 räumen müssen: Arisierung. „Der Ekel bringt mich um“, hatte er geschrieben, bevor er wegen psychischer Beschwerden in die Landesheilanstalt Altscherbitz bei Leipzig eingewiesen wurde. „Meine Lage ist seit längerem durchaus lebensgefährlich“, hatte der 73-Jährige mit Blick auf seine Gesundheit eingeschätzt. Schwarz kam nicht darüber hinweg, dass er im NS-Staat als Jude galt und von Nazi-Rechts wegen schikaniert wurde.

Er hatte Jüdischsein stets als religiöse Angelegenheit begriffen. Er aber war 1904 zum protestantischen Glauben übergetreten, also kein Jude mehr. Als er sich 1939 trotzdem auf Weisung des Staats als Jude registrieren lassen sollte, schrieb er an Leo Hirsch, den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, man solle ihn „ein bisschen in Ruhe lassen.“ Dem Rassengesetz der Nazis hielt er seine religiöse Selbstbestimmung in einem pointierten Schreiben entgegen. Er starb am 6. Oktober 1940 in Altscherbitz unter ungeklärten Umständen.

Zwei Stolpersteine für Hugo und Bertha Arnholz (Foto: xkn)

Am 28. November 2019 hat der Verein „Zeitgeschichten“ mit Stolpersteinen an diese drei Beispiele normaler Hallenser erinnert, die im sogenannten Dritten Reich schikaniert, entrechtet und ermordet wurden, weil die Nazis sie als Juden verfolgten. Im Bahnhofsviertel vor dem Haus Am Güterbahnhof 1, in dem Hugo Schwarz eine Schneiderwerkstatt hatte und das heute ein Bordell ist, und im Bebelviertel vor dem Haus Weidenplan 9, in dem Simon Schwarz bis zur Arisierung seiner Wohnung gelebt hatte, brachte der für die Stolperstein-Verlegung bekannte Künstler Gunter Demnig die drei Steine für Hugo und Bertha Arnholz und für Simon Schwarz in den Bürgersteig ein. Hugo Arnholz und Simon Schwarz sind aber nicht nur Opfer, sondern auch Beispiele bürgerlichen Widerstands im Kleinen – vergeblichen Widerstands zwar, aber einer von Würde und Selbstbehauptung getriebenen Auflehnung gegenüber dem Unrechtsstaat. „Wir wollen diese Personen, die als ganz normale Hallenser unter uns gelebt haben, dem Vergessen entreißen“, sagt Anne Kupke vom Zeitgeschichten-Verein bei der Gedenkstunde vor dem Haus Am Güterbahnhof 1. Ihre Kollegin Juliane Bischoff hat die Biografien der drei Geehrten recherchiert, eine aufwendige Arbeit in den Archiven. Es sind nur wenige Daten aus dem Telefonbuch und ein paar hinterlassene Schriften, die an die drei erinnern. Als normaler Mensch hinterließ man oft auch nicht viel mehr.

„Dem Vergessen entreißen“: Anne Kupke vom Verein Zeitgeschichten. (Foto: xkn)

Damit die grauenhafte und barbarische Zeit nicht in Vergessenheit gerät, ist auch ein älterer Herr gekommen, der sie selbst miterlebt hat. Nur wenige Meter von dem Haus entfernt, in der Delitzscher Straße, hat der wohl letzte hallesche Überlebende des Holocaust Max Schwab damals gewohnt. Es ist ihm wichtig, hier im Jahr 2019 dabei zu sein und zu erinnern. Aber das Erzählen fällt dem 84-Jährigen schon schwer. Schwab war ein Kind zur Zeit des Krieges, und das rettete ihm wohl das Leben, wie er erzählt. In einem Luftschutzkeller überlebten sein Bruder und er einen Bombenangriff auf das Bahnhofsviertel. Kinder durften mit hinein, Juden nicht.

Juliane Bischoff vom Verein „Zeitgeschichten“. (Foto: xkn)

Mit dabei bei dem guten Dutzend Menschen sind an diesem Tag auch mehrere junge Leute, die sich immer wieder etwas in Notizbücher schreiben. Es sind Schüler der Stiftung Bildung und Handwerk. Der Bildungsträger schult in Halle junge Menschen, die auf dem ersten Bildungsweg keinen Abschluss erreicht haben. Seit 2017 engagieren sich mehrere dieser Schüler außerhalb der Schulzeit im Projekt „Tagebuch der Gefühle“. Dabei schreiben die Schüler ihre Gefühle bei der Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen auf. Bereits zwei Bücher sind auf diese Weise entstanden. In Kürze soll das dritte herauskommen. Am 8. Februar 2020 ist im Stadthaus eine öffentliche Lesung daraus geplant. Der 20-jährige Kevin Abdeljawad beispielsweise hat am Donnerstag erfahren, dass dem Juden Hugo Arnholz nicht einmal im Tode Gerechtigkeit durch die Nazis widerfuhr. Diese hatten, um den Tod in der Bernburger Gaskammer zu vertuschen, sogar die Sterbeurkunde gefälscht. Abdeljawad findet das menschenverachtend. Philipp Kluge, 22, findet es gut, wie er sagt, „dass heute so viele Menschen hier waren und sich für die Geschichte interessieren“. Max Kieselbach, 20, sagt, es sei sehr gut, dass „Menschen mit den Stolpersteinen daran erinnern, was früher schreckliches passiert ist“.

Die Stolpersteine vor dem Bordell Am Güterbahnhof 1 erinnern nun an Bertha und Hugo Arnholz und an die jüdische Schneiderwerkstatt, die es früher hier gegeben hat, 77 Jahre nach dem Tod der beiden. Simon Schwarz, dem stolzen deutschen Protestanten, den die Nazis als Jude verfolgten, wird am Weidenplan 9 nach 79 Jahren die Ehre erwiesen. Kleine Pflastersteine gegen das Vergessen.

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