Wo fängt man an, wo hört es auf?

Die Uraufführung des Thalia Theaters: "Wegklatschen -- Applaus für Bonnie und Clyde" als Stück zur Stunde

0
Wegklatschen – Applaus für Bonnie und Clyde hat am Freitag am Thalia Theater Premiere gefeiert. (v.l.: Matthias Walter, Sybille Kreß, Michael Ruchter, Nils Andre Brünnig, Marlene Tanczik; Foto: Anna Kolata/TOO)

Halle/StäZ – Dass das Theater oder die Schaubühne, wie Friedrich Schiller einst postulierte, eine „moralische Anstalt“ sein kann und soll, steht für die Theatermacher in Halle außer Frage. Sie mischen sich ein. Lassen sich zum Beispiel ihr Programm am 9. November ganz direkt von diesem deutschen Schicksalsdatum diktieren. An dem kommt mit der Novemberrevolution 1918, dem Pogrom der Nazis gegen die Juden 1938 und dem Mauerfall 1989 deutsche Geschichte wie an kaum einem anderen Tag dialektisch auf den Punkt. Und sie treten am Ende jeder Vorstellung – so wie es die Schauspieler in den Zeiten des eskalierenden Zusammenbruchs der DDR 1989 taten – aus ihren Rollen und reden als mündige Bürger zu und mit ihren Zuschauern.

Wie ’89: Schauspieler Matthias Walter verliest zur Premiere eine Erklärung des Ensembles zur aktuellen Lage. (Foto: Joachim Lange)

Wenn ein Rechtsradikaler auf offener Straße willkürlich zwei Menschen erschießt, weil es ihm an der Synagoge nicht gelungen war, ein Massaker unter betenden Juden anzurichten, wenn der blanke Hass im Netz eskaliert, und wenn es Aktivisten eines von Rechtsaußen versuchten Angriffs auf die liberale Demokratie gelingt, sich in den Stadtrat wählen zu lassen und von dort zum Sprung in den Aufsichtsrat der TOOH anzusetzen, dann ist das auch nötig. [ds_preview]

Dieses Flaggezeigen mit erkennbaren, auch direkt deklarierten Positionen ist das eine. Das andere ist die Kunst. Mit Lessings „Nathan“ eine Spielzeit zu beginnen, gehört dazu. Auch wenn sich niemand der Illusion hingibt, dass die Ringparabel, dieses in Stein gemeißelte Toleranzedikt der Aufklärung, bei einem per Selbstverständnis Intoleranten irgendetwas bewegt. Eine Ermutigung der Toleranten ist es gleichwohl.

Eine doppelte Herausforderung für ein lebendiges Theater ist es, auch beim nachwachsenden Publikum zu landen. Es geht darum, eine Generation, in der Sprechblasen-Kommunikation angesagt ist und in der die zersplitterten Echoräume der Netzwerke das Denken eher beschränken als befördern, das uralte Erlebnis Live-Theater in seinen Rechten zu verteidigen und diese Zielgruppe zu erreichen.

Mit Sergej Gößners neuem Stück „Wegklatschen – Applaus für Bonnie und Clyde“, das am Freitag in der Kammer des neuen theaters uraufgeführt wurde, ist das jedenfalls gelungen. Auch gemessen am johlenden Beifall des altersmäßig tatsächlich von der Zielgruppe „ab 13“ dominierten Publikums.

Da stimmten Form und Inhalt!

Eis in Penisform, um die Nazis vorzuführen. (Foto: Anna Kolata/TOO)

#Hass-Spruchbänder rahmen ganz oben wie ein Fries den Zuschauerraum. Im hinteren Teil erweitern zwei Gerüste rechts und links die Spielfläche. Lena Schmid imaginiert mit lauter  bunt blinkenden Bögen auf der Bühne eine Art Tunnel.

Mona (Sybille Kreß), Leo (Marlene Tanczik), Paul (Nils Andre Brünning) und Maik (Michael Ruchter) sind vier Teenager, die was tun wollen. Wie schwierig es mit der Demokratie im Kleinen ist, merken sie schon, als sie sich auf eine Pizza für alle einigen wollen.

Bonnie und Clyde alias Marlene Tanczik und Nils Andre Brünnig. (Foto: Anna Kolata/TOO)

Sie holen sich den „Erwachsenen“ Tobi (Matthias Walter) dazu. Zusammen sind sie zur Tat entschlossen, wollen etwas tun gegen die Rechten, die Neo- und alten Nazis. Und geraten dabei selbst in einen Sog der Gewalt, obwohl sie die eigentlich ablehnen. Die erste gemeinsame Aktion hat noch Witz. Sie wollen Eis in Penis-form an Neonazis verteilen und sie dabei fotografieren wie die daran lutschen. Einfach, um sie lächerlich zu machen. Wenn sie das ausdiskutieren – man versteht sich als Kollektiv, das gemeinsam entscheidet – wird das Spiel mit dem homophoben Touch, den man darin auch sehen kann, natürlich gleich brav und korrekt relativiert. Doch dann setzt eine Spirale der Gewalt ein. Hassbotschaften öffentlich bloßstellen geht noch. Einen SUV anzünden, wie Maik es im Alleingang getan hat, geht schon zu weit und wird nicht mehr durch die Gruppe gedeckt. Leo und Paul bleiben als harter Kern übrig und nennen sich Bonnie und Clyde. Als die beiden den in Frankreich verurteilten, aber in Deutschland auf freiem Fuß lebenden und bei seinen Kumpanen verehrten, uralten SS-Mann Kurt Kreismann mit seinen Verbrechen konfrontieren, überlebt der das nicht.

Die Stückdramaturgie wechselt flott zwischen den Aktionen der Gruppe und den Reaktionen der Staatsmacht. Als referierend angedeutete Verhöre bei der Polizei. All das hat Regisseurin Grit Lukas in einer reichlichen Stunde mit anhaltender Spannung temporeich verdichtet. Zu einem Stück, das funktioniert und bei dem es um etwas geht. Ästhetisch modern, aber nicht als Selbstzweck der Mittel. Politisch deutlich, aber ohne didaktischen Zeigefinger.

So geht Theater!

Wegklatschen – Applaus für Bonnie und Clyde
Thalia Theater Halle; Regie: Grit Lukas; Bühne: Lena Schmidt

Nächste Vorstellungen: 12. November 2019, 10 Uhr, Freitag, 22. November 2019, 20 Uhr, 21. Dezember 2019, 20 Uhr, 28. Januar 2020, 10 Uhr, nt – Kammer

www.buehnen-halle.de 

0 0 votes
Article Rating
Subscribe
Benachrichtigen Sie mich zu:
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments