Todesfahrer-Prozess: 1.500 Euro Strafe für ein Menschenleben

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Angeklagter Uwe B. (r.) am Dienstag vor dem Amtsgericht Halle. (Foto: xkn)

Halle/StäZ – 1.500 Euro Strafe muss ein LKW-Fahrer zahlen, der im vergangenen Jahr in Ammendorf eine Radfahrerin überfahren hat. Die 62-jährige Österreicherin hatte den Unfall nicht überlebt. Das Amtsgericht Halle stellte das Verfahren am Dienstag gegen Geld-Auflage vorläufig ein. Zu einem Urteil kam es nicht. Amtsgerichtspräsident Peter Weber sah zwar eine Schuld des wegen fahrlässiger Tötung angeklagten 55-jährigen Uwe B. aus Halle. Er sei beim Rechtsabbiegen zu schnell um die Kurve gefahren. Weber hielt ihm aber ebenfalls zahlreiche mildernde Umstände zugute. So habe sich die Radfahrerin im entscheidenden Moment wahrscheinlich im toten Winkel befunden. Auch habe sich der Angeklagte im Prozess umfassend eingelassen und die Beweisaufnahme nicht behindert. Auch sei er bis zu dem Unfall ein unbescholtener LKW-Fahrer gewesen. Zudem sah Weber bei der Radfahrerin eine Mitschuld an dem Unfall. Möglicherweise entscheidende Details zum Unfallhergang kamen im Prozess allerdings nicht zur Sprache, zum Teil auch, weil die polizeilichen Ermittlungen offenbar lückenhaft waren. [ds_preview]

So blieb im Prozess offen, warum genau es zu dem Unfall kam. Der genaue Hergang konnte auch durch einen Dekra-Gutachter nicht mehr mit Sicherheit rekonstruiert werden. Lediglich die Aufnahmen einer Dashcam, also einer im LKW mitgelaufenen Frontkamera, sowie zwei Zeugenaussagen konnten – neben der Aussage des LKW-Fahrers – das mutmaßliche Geschehen an jenem 16. Juli 2018 beleuchten.

Gegen 11:30 Uhr ist Uwe B. mit seinem Volvo-LKW mit Sattelauflieger, an jenem heißen Tag aus Schkopau kommend, auf der B91 unterwegs in Richtung Halle, ebenso wie die Radfahrerin Michaela Martina A.. Uwe B. hat es eilig. Er muss bis 14 Uhr in Dresden sein, plant vorher noch einen Stopp in Leipzig. In der Kameraaufnahme sieht man, wie er Michaela Martina A. überholt. Sie fährt, gekleidet in ein leuchtendes Fahrraddress, auf dem Überland-Radweg rechts der B91, noch geschützt durch die Leitplanke. Uwe B. stoppt an der ersten Ampelkreuzung in Halle, auf Höhe der Endstelle der Straßenbahn in Ammendorf. Er will weiter nach rechts in die Regensburger Straße, eine beliebte Strecke bei LKWs, zum langjährigen Ärger der Anwohner. Noch ein kurzes Mal taucht Michaela Martina A. in der Dashcam-Aufnahme auf. Sie hat den LKW wieder eingeholt und steht nun vor ihm an der Radfahrerampel. Dabei ist auch ein anderer unbeteiligter Radfahrer. Als die Radfahrerampel ein paar Sekunden vor der Autoampel auf grün schaltet, fährt Michaela Martina A. langsam los, nach rechts aus dem Blickfeld. Der LKW fährt ebenfalls an, fährt in einem weiten Bogen – der Auflieger schwenkt in Kurven bis zu zwei Meter aus – nach rechts, quert den Fußgängerbereich der Kreuzung und bremst dann wieder ab. Der Fahrer steigt aus – das hört man in der Aufnahme – und schreit auf. „Scheiße! Das habe ich nicht gesehen!“ Als er den Notruf wählt und hörbar aufgeregt mit der Leitstelle spricht, ist er sich sicher: „Da ist nichts mehr zu machen. Die ist tot.“ Der Aufprall selbst ist in dem Video nicht zu sehen. Es zeigt nur einen bestimmten Ausschnitt der Frontalsicht des LKW. Es gibt keinen sichtbaren Ruck, als der 40-Tonner die Radfahrerin erfasst. Laut Spurensicherung hat er sie und ihr Rad noch mehrere Meter mitgeschleift, bis er zum Stehen kam. Zuerst vermutet Uwe B., wie er sagt, dass ein Bremszylinder blockiert habe. Deshalb sei er stehengeblieben.

Ein Polizist, der später die Spuren am Unglücksort gesichert hat, sagt im Prozess aus, der Körper der Radfahrerin sei vom linken Vorderrad des LKW überrollt worden und habe sich dann um die Achse des Lastzugs gewickelt. Laut Obduktionsbericht, den Richter Weber verliest, starb Michaela Martina A. an einem sogenannten Polytrauma, einer Vielfachverletzung. In dem Bericht ist unter anderem die Rede von einer klaffenden Zermalmung des unteren Hüftbereichs, von zahlreichen Brüchen, auch der Wirbelsäule, einer Zerreißung des Herzbeutels, einer Einreißung des Lungengewebes, einer massiven Zerreißung der Hauptschlagader im Bauch. Michaela Martina A. hatte keine Chance.

Dekra-Gutachter Kornelius Iwig hat im Auftrag des Gerichts versucht, den Unfallhergang zu rekonstruieren. Zentrale Frage dabei ist, ob Uwe B. die Radfahrerin überhaupt sehen konnte, als er um die Kurve bog. Das Sichtfeld eines LKW-Fahrers, das wird deutlich, ist gerade beim Rechtsabbiegen stark eingeschränkt. Vor allem der Holm der sogenannten A‑Säule mit seinen großen Seitenspiegeln sorgt dann für einen großen toten Winkel. Zudem gibt es vor dem LKW ebenfalls eine für den Fahrer uneinsehbare Zone. Für Michaela Martina A. war das die Todeszone. Gutachter Iwig stellt zudem fest, dass im Unfall-LKW eine auf dem Armaturenbrett installierte Kaffeemaschine und ein Aktenablagebrett die Sicht des Fahrers weiter eingeschränkt haben. Ob diese Einschränkungen allerdings entscheidend waren, bleibt offen. Wenn überhaupt, so Iwig, hätte Uwe B. die Radfahrerin nur für den Bruchteil einer Sekunde sehen können.

An der Kreuzung zur Regensburger Straße in Ammendorf kam Michaela Martina A. am 16. Juli 2018 ums Leben. Ein Ghostbike und ein Kreuz erinnern an ihren Tod. (Foto: xkn)

Auch die Fahrwege der beiden Unfallbeteiligten können nicht detailgetreu rekonstruiert werden. Zwischen dem Losfahren der Radfahrerin an der Ampel und der Kollision liegen 13 Sekunden. In dieser Zeit muss Michaela Martina A. einen leichten Rechtsschwenk hin zu der Fußgängerampel gemacht haben, an der der Unfall dann passierte. Eine Zeugin, die auf dem Beifahrersitz eines Autos saß, das aus Richtung Osendorf in Richtung Schkopau abbiegen wollte, sagt aus, die Radfahrerin hätte den LKW eigentlich sehen müssen. Sie habe mit dem Rad an der Fußgängerfurt gestanden und sich mit der Hand an der Ampel dort abgestützt. Dann sei sie unvermittelt losgefahren. „Ich war entsetzt über ihr Verhalten. Sie hätte den Unfall eigentlich vermeiden können“, so die 63-jährige Zeugin. Ihr 74-jähriger Mann, der das Auto fuhr, kann nichts beitragen. Er habe erst auf seine Ampel geschaut und dann Michaela Martina A. nur noch vor dem LKW taumeln sehen, als seine Frau aufgeschrien habe. Ein anderer Zeuge, der mit einem Motorrad hinter dem Unglücks-LKW an der Ampel stand, sagt, Michaela Martina A. habe jedoch nach rechts und nicht nach links geschaut. Auch er ist sich sicher, dass sie gestanden habe, ehe sie losfuhr. LKW-Fahrer Uwe B. sagt, er sei davon ausgegangen, dass die zwei Radfahrer wie er nach rechts abgebogen seien. Er rechnete also nicht mit ihnen auf der Fußgängerfurt. Weitere Augenzeugen sind nicht bekannt. Mehrere Menschen, auch der zweite Radfahrer, waren nicht mehr am Unfallort, als die Polizei eintraf.

Laut Fahrtenschreiber des LKW war das Gefährt mit bis zu 20 km/h in der Kurve unterwegs. Ein Fahrzeug mit dieser Geschwindigkeit legt rechnerisch fünfeinhalb Meter pro Sekunde zurück. Dass die Ampel sowohl für Uwe B. als auch für Michaela Martina A. auf grün stand, ist unstrittig. Sie hatte Vorfahrt. Richter Peter Weber weist jedoch darauf hin, dass in diese Richtung an der Fußgängerfurt nur eine Personenampel geschaltet sei, keine Radfahrampel. Nur in der Gegenrichtung dürften Radfahrer über die Fußgängerfurt fahren. Er habe sich persönlich vor dem Prozess noch einmal davon überzeugt, so Weber. Die Radfahrampel für stadteinwärts fahrende Radfahrer ist ein paar Meter weiter vorne angebracht, direkt neben der Fahrbahn, denn der eigentliche Radweg führt normalerweise ganz gerade über die Kreuzung. Dieser Radweg war jedoch zum Unglückszeitpunkt nicht mehr markiert. Er sei zu abgefahren gewesen, um ihn noch erkennen zu können, sagt der leitende Unfallermittler der Polizei. Erst nach dem Unfall hat die Stadt die Markierung erneuert. Auch die kreuzenden und sich verzweigenden Straßenbahnschienen müssen es für Michaela Martina A., die wahrscheinlich nicht ortskundig war, schwer gemacht haben, den richtigen Fahrweg zu erkennen.

Die Unfallkreuzung am Tag des Prozesses, anderthalb Jahre nach dem Unfall: Von der Radfahrampel (l.) aus fuhr Michaela Martina A. nach rechts zur Fußgängerampel, soll sich dort kurz am Ampelmast festgehalten haben und dann bei grün weitergefahren sein. Die Radwegmarkierung wurde erst nach dem Unfall erneuert. (Foto: xkn)

Warum sie zur Fußgängerampel fuhr und dort über die Straße fahren wollte, könnte ein anderes Detail erklären, das jedoch im Prozess überhaupt keine Bedeutung findet: Zum Unglückszeitpunkt gab es an der Kreuzung eine Radwegumleitung, die Radfahrer aus Schkopau kommend extra zur Fußgängerampel führte und umgekehrt. Das zeigt ein Foto, das die Städtische Zeitung noch am Nachmittag des Unglückstags aufgenommen hat. Zwar bleibt es Spekulation: Michaela Martina A. könnte sich an dieser Umleitung orientiert haben und deshalb über die Fußgängerampel gefahren sein. Auch ihr vom Motorradfahrer bezeugter Blick nach rechts könnte zu dem Umleitungsschild gerichtet gewesen sein. Das wies ihr den Weg über die Fußgängerampel, also fuhr sie womöglich nach ein, zwei Sekunden weiter. Spekulation, ja, aber denkbar ist so ein Hergang.

Bild vom Tag des Unfalls: Zwei Umleitungsschilder führen Radfahrer direkt auf die Fußgängerkreuzung. (Foto: xkn/Archiv)

Diese damalige Umleitung kennt jedoch am Dienstag offenbar niemand der Prozessbeteiligten. Weder der Polizeiermittler, zu dessen Aufgaben die Ermittlung der Vorfahrtsregelungen und Wegebeziehungen am Unglücksort eigentlich gehört hätte, noch der Gutachter, auch nicht Richter Weber, der der Radfahrerin jedoch eine Mitschuld geben wird, weil sie an der Kreuzung nicht abgestiegen sei. Erst die Recherche des stutzig gewordenen Reporters im StäZ-Fotoarchiv nach dem Prozess fördert das Detail zu Tage.

Auch ein weiterer Umstand lässt aufhorchen: So erklärt der leitende Unfallermittler der Polizei, dass es der telefonisch benachrichtigte Staatsanwalt Klaus Wiechmann abgelehnt habe, einen Dekra-Gutachter zur Unfallstelle hinzuzuziehen. Auch sei der Unglücks-LKW nach der Bergung des Opfers noch am Unfallort wieder freigegeben worden. Dekra-Gutachter Iwig bemängelt beides im Prozess. So hätten Gutachter, wenn sie direkt hinzugezogen worden wären, noch nach weiteren eigentlich unvermeidlichen Spuren am Unfallort gesucht, etwa nach Abriebspuren des Fahrradreifens, die den genauen Kollisionsort verraten hätten. Und man hätte im Original-LKW die Sichtbedingungen überprüfen können. Auch hätten nicht nur die Sekundendaten des Fahrtenschreibers ausgelesen werden müssen, sondern die Daten, die die Geräte viertelsekündlich aufzeichnen, so Iwig. Auch das sei aber nicht passiert. So konnte das Unfallgeschehen nicht mehr genau aufgeklärt werden, so Iwig.

Eine Fahrradampel gibt es an der Fußgängerfurt nur in eine Richtung: stadtauswärts. (Foto: xkn)

Nach mehr als drei Stunden Verhandlung bricht Richter Weber den Prozess daher ab. Er schlägt den Beteiligten eine Einstellung des Verfahrens gegen die Auflage vor, dass der Angeklagte 1.500 Euro an eine gemeinnützige Organisation zahlt. „Sie haben Schuld“, sagt er zu Uwe B.. Aufgrund der einschlägigen Rechtsprechung, wonach LKW-Fahrer beim Rechtsabbiegen erhöhte Sorgfaltspflichten haben und jederzeit stoppen können müssen, komme ein Freispruch nicht in Betracht, sollte es zu einem Urteil kommen. „Sie hätten ein bisschen langsamer fahren müssen“, so Richter Weber. Allerdings trage auch die Verunfallte eine Mitschuld. „Das war eine Fußgängerampel. Da kann sie nicht einfach rüberfahren“, so Weber. Dem Angeklagten hielt er auch zugute, dass er seit 35 Jahren unfallfrei und ohne Flensburg-Punkte Kraftfahrer sei. Auch habe er im Prozess mitgewirkt und „keinen Zirkus gemacht“, etwa bei der gerichtlichen Verwertung der Dashcam-Aufnahmen. „Es handelt sich hier“, so Weber weiter, „um einen schweren Unglücksfall mit einer Getöteten. So etwas soll nicht vorkommen, aber was will man machen. Ich denke, so etwas wird Ihnen nicht wieder passieren.“ Staatsanwältin Katja Voigt und Verteidigerin Kathrin Hohmann stimmten der Einstellung des Verfahrens zu.

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