Pogromgedenken: Privorozki sieht Parallelen zwischen 1938 und 2019

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde sieht Intoleranz und Hass in der Gesellschaft als gemeinsame Ursache.

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Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Halle, spricht zum Gedenken an die Recihsprogromnacht. (Foto: xkn)
Max Privorozki (Foto: xkn)

Halle/StäZ – Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle Max Privorozki sieht Parallelen zwischen den Novemberpogromen von 1938 und dem antisemitischen Anschlag von Halle vom 9. Okotber 2019. Bei der traditionellen Gedenkveranstaltung an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 am früheren Ort der halleschen Synagoge am heutigen Jerusalemer Platz sagte Privorozki am Freitag: „Ziehe ich Parallelen zwischen dem 9. November 1938 und dem 9. Oktober 2019? Ja, auf jeden Fall.“ Obwohl es zwischen beiden Daten auch immense Unterschiede gebe, gehe es in beiden Fällen um Ereignisse, die als schwarze Seiten in die Stadtgeschichte eingegangen seien. Beides seien Taten aus irrationalem und blindem Hass gegen Juden gewesen. [ds_preview]

„Die Gründe dieses Hasses haben die gleiche Quelle, und nur unterschiedliche Verbreitungsmethoden im Hinblick auf die technischen Möglichkeiten“, so Privorozki in seiner Ansprache vor rund einhundert Teilnehmern des Gedenkens. In der Nazizeit sei der Hass mittels schriftlicher Medien à la Stürmer oder übers Radio mittels der Volksempfänger verbreitet worden, heute gebe es die wildesten Verschwürungstheorien im Internet – aber auch in manchen Medien.

Auch antisemitische Erklärungsmuster seien nach wie vor verbreitet und würden – heute oft auf Israel bezogen – weitergesponnen, etwa die Erzählung vom Brunnenvergiften oder vom angeblich großen jüdischen Einfluss in Wirtschaft und Politik.

„Hass und Gewalt sind zur Normalität geworden.“

Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde

In der sogenannten Reichspogromnacht am 9. November 1938 war in Halle die Synagoge am Großen Berlin von einem Nazi-Mob gestürmt, geplündert und schließlich niedergebrannt worden. Die Feuerwehr hatte Anweisung, lediglich das Übergreifen des Feuers auf die benachbarten Gebäude zu verhindern. Auch viele jüdische Geschäfte wurden zerstört. Gleichzeitig verhaftete die Polizei in jener Nacht rund 150 jüdische Männer und brachte 124 von ihnen ins Konzentrantionslager Buchenwald.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November gab es im gesamten Deutschen Reich Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung. Auslöser war vorgeblich das Attentat eines jüdischen Widerstandskämpfers auf einen nationalsozialistischen Diplomaten in Paris. Die Nazis nutzten das Ereingis um vorgeblich spontane, aber eigentlich inszenierte und orchestrierte Pogrome in Gang zu setzen.

Die Jüdische Gemeinde in Halle hatte 1933 1.086 Mitglieder. Zu Kriegsende 1945 lebten in Halle noch 49 Juden. Alle anderen waren vertreiben, verfolgt, deportiert und ermordet worden. (xkn)

Beide Ereignisse seien auch durch die fehlende Analyse der tieferliegenden Ursachen verbunden, so Privorozki. Die historischen Ereignisse allein erklärten nicht, warum die einzelnen Menschen 1938 antisemitisch gedacht und gehandelt hätten. „Die gleiche Frage stelle ich auch jetzt zum Attentäter vom 9. Okotber: Wie konnte es passieren, dass ein im Jahre 1992 im freien Deutschland geborenes Kind sich zu einem Monster im Jahre 2019 entwicklet hat? Ich habe keine Antworten auf beide Fragen“, sagte Privorozki. Dennoch vermute er, dass sie sich ähnelten: „In beiden Fällen gab es in der Gesellschaft enorme Intoleranz. Hass und Gewalt sind zur Normalität geworden. Die moralische Entwicklung der Gesellschaft blieb hinter der technischen Entwicklung weit zurück“, so Privorozki.

Hass und Gewalt hätten nicht nur Juden betroffen. Der Antisemitismus zeige „wie ein Stück des Lakmuspapiers“ den Zustand der Gesellschaft insgesamt. „Dabei geht es nicht um den einzelnen Menschen oder eine Berufsgruppe. Es geht um die Allgemeinheit, und es beginnt manchmal dort, wo man es nicht unbedingt ernst nimmt.“

Privorozki wies dabei auch auf antisemitische Äußerungen aus der Mitte der Gesellschaft hin, etwa, wenn im Spiegel ein Artikel über den Einfluss der Juden in der Politik erscheine oder eine antisemitische Rede von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas im EU-Parlament vom SPD-Politiker Martin Schulz eine inspirierende Rede genannt werde. „Die Probleme beginnen immer im Kopf.“ Dort, in den Köpfen der Menschen, sollte man auch die Antworten auf die Frage, wie die damaligen Pogrome an und heutigen Angriffe auf Juden möglich gewesen seien, suchen, so Privorozki. „Dann kann man auch die Umsetzungsrezepte für den Slogan ‚Nie wieder!‘ erarbeiten. Anonsten bleibt er genauso wie die Wendnung ‚Alarmzeichen‘ nur ein Lippenbekenntnis.“

Rund 100 Menschen nahmen am Freitag am Gedenken an die Reichspogromnacht vor 81 Jahren auf dem Jerusalemer Platz teil. (Foto: xkn)

Bei allen möglichen Parallelen zwischen den Novemberpogromen 1938 und dem Attentat von Halle gebe es aber auch eine entscheidende Differenz, so Privorozki. „Das ist die Reaktion der absoluten Mehrheit der Menschen.“ Direkt nach dem Anschlag habe seine Gemeinde fast 900 Solidaritäts-E-Mails bekommen. Das gebe der jüdischen Gemeinde die Hoffnung, „dass wir ein Teil dieser Gesellschaft sein dürfen und dass der Mörder vom 9. Oktober mit seiner Hassideologie und bestialischen Brutalität die absolute Minderheit bleibt.“

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siggivonderheide@me.com
4 Jahre her

und jetzt bitte auch wieder darauf achten das auch israelische Politik, speziell die gegenüber Palästinensern, menschenfeindlich sein kann.

TNi
4 Jahre her

Ach guck. Whataboutismen unterwegs.
[Wer es nicht versteht: Ihr Einwand soll vom Thema ablenken.]

siggivonderheide@me.com
4 Jahre her
Reply to  TNi

Warum werden antisemitische Reden von Palästinensern als Beispiel und nicht, naheliegender, der „Fliegenschiss“ von Gaulandt, oder das „Denkmal der Schande“ von Höcke erwähnt? Nein, es wird wieder die israelische Politik gegenüber den Palästinensern, die Siedlungsbauten und die Verstöße gegen UN Resolutionen seitens der israelischen Regierung beschützt, von diesem Thema wird ablenkt.
Antisemitismus ist von hier und hat seine Wurzeln in Deutschland. Die Instrumentalisierung des entsetzlichen Geschehens in unserer Stadt ist ein Grund zur Fremdscham. Ich lenke nicht ab, ich warne vor einseitiger Sicht aus aktueller Betroffenheit.