Kommentar: Unterm Rad der Justiz

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An der Kreuzung zur Regensburger Straße in Ammendorf kam Michaela Martina A. am 16. Juli 2018 ums Leben. Ein Ghostbike und ein Kreuz erinnern an ihren Tod. (Foto: xkn)

„Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ So steht es kurz und knapp in § 222 des Strafgesetzbuches. In Halle hat die fahrlässige Tötung einer Radfahrerin am Dienstag einen LKW-Fahrer 1.500 Euro gekostet, zahlbar in sechs Raten. Der Richter am Amtsgericht sprach kein Urteil, sondern stellte das Verfahren gegen Geldbuße ein. Anklage und Verteidigung stimmten zu. Es ist quasi die glimpflichste aller Arten, wie man in Deutschland aus so einer Sache davonkommen kann, wenn eine Schuld festgestellt ist. Man darf jedoch ohne Missachtung des Gerichts sagen, dass dem Opfer damit keine Gerechtigkeit widerfahren ist. Die Strafe steht in keinem Verhältnis zu einem verlorenen Menschenleben.

Das Unglück, das die österreichische Radfahrerin das Leben kostete, war verschuldet. Verschuldet zuallererst durch einen unaufmerksamen, zu schnell um die Kurve fahrenden LKW-Fahrer. Das hat das Gericht festgestellt. Ja, es ist eine Stärke des deutschen Rechtsstaats, dass er sich bei seinen Urteilen nicht von Emotionen leiten lässt und auch die entlastenden Tatsachen berücksichtigt. Insofern ist es legitim, einen reuigen, mitwirkenden und zuvor unbescholtenen LKW-Fahrer nicht unbedingt ins Gefängnis zu schicken. Es ist aber auch eine rechtsstaatliche Stärke, in einem Gerichtsverfahren einen Sachverhalt zumindest soweit als möglich aufzuklären. Das war dem Gericht in diesem Fall teilweise nicht möglich, teilweise hat es sich die Sache aber auch zu einfach gemacht. Wären die genauen Tatsachen ausermittelt worden, wäre der Prozess möglicherweise anders ausgegangen. Stattdessen wurde nicht einmal ein Urteil gefällt, die Beweisaufnahme abgebrochen.

Im Prozess wurde stattdessen offensichtlich, dass zu dem Unfall schlampig ermittelt wurde. Die Staatsanwaltschaft blockierte zum Beispiel die unmittelbare Hinzuziehung eines Gutachters. Nachträglich war das genaue Geschehen dann nicht mehr rekonstruierbar. Und es fiel offenbar auch niemandem auf, dass es am Unglückstag eine installierte Radwegumleitung gab. Dass Michaela Martina A. also möglicherweise völlig zu Recht mit ihrem Rad die Fußgängerampel benutzte.

Überhaupt ist es beklemmend, dass im Prozess zwar ausführlich der fahrlässige Täter, aber kaum das Opfer in den Blick rückten. Dessen Perspektive hat so gut wie keine Rolle gespielt. Michaela Martina A., eine 62-jährige Radwanderin aus Österreich, hatte gerade das Eingangsschild der Stadt passiert, hatte sich auf einer schlecht markierten und mit einer Radwegumleitung beschilderten Kreuzung orientieren müssen, ihre Ampel hatte grün, sie fuhr los, und sie wurde vom LKW tödlich erwischt, ohne noch reagieren zu können. Muss man, wenn man grün hat, nochmal nach links sehen, um zu schauen, ob ein LKW tatsächlich anhält? Sicher: Hätte Michaela Martina A. das getan, wäre sie vielleicht noch am Leben. Aber sie hatte Vorfahrt. Und ein LKW, der mit 20 km/h um die Kurve kommt, legt in einer Sekunde fünfeinhalb Meter zurück. Das ist, bezogen auf die Unglückskreuzung sehr viel. Zu viel. Es ist schlicht zu schnell. Es ist zudem fraglich, ob das Opfer nicht schon auf der Kreuzung war, als es den LKW hätte erkennen können. Die Zeugenaussagen im Prozess dazu waren nicht eindeutig.

Dass Michaela Martina A. trotz dieser unklaren Lage vom Richter eine Mitschuld attestiert wird, die zu erheblicher Strafmilderung des Täters führt, ist daher schwer zu begreifen. Das Todesopfer eines Unfalls kann sich gegen so eine Schuldzuweisung nicht einmal wehren. Auch die Staatsanwaltschaft machte sich die Opferperspektive nicht zueigen. So kam Michaela Martina A. am Dienstag in Halle zum zweiten Mal unter die Räder. Vom Gesetz, das zeigt der Prozess von Halle, sind Radfahrer allzu oft nicht ausreichend geschützt.

Sie sind aber auch ansonsten oft schutzlos. Verschuldet war das Unglück auch durch eine unübersichtliche Kreuzung, deren fehlende Radwegemarkierung die ortsunkundige Radlerin in Gefahr brachte. Kein Einzelfall in Halle. Das Unglück war auch verschuldet durch die immer noch zu lässigen Zulassungsbedingungen für LKW, die es erlauben, dass diese wegen ihrer großen toten Winkel vor allem innerstädtisch weiter tonnenschwere potenzielle Todesmaschinen für Radfahrer bleiben. Seit dem Tod von Michaela Martina A. sind in Halle zwei weitere Radfahrerinnen von LKW getötet worden.

Auf LKW-Fahrer wird dieses Urteil jedenfalls keine abschreckende Wirkung haben. Auch am Tag des Prozesses donnerten die LKWs wieder im Minutentakt um die Ammendorfer Kreuzung. Die aller‑, allerwenigsten wären in der Lage gewesen, sofort zum Stehen zu kommen, wie es die Rechtsprechung von Rechtsabbiegern fordert. Was Michaela Martina A. am 16. Juli 2018 passiert ist, kann daher jederzeit wieder passieren.

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U. Geiß
4 Jahre her

In der Tat sind Verlauf und Ausgang dieses Strafverfahrens nur schwer nachvollziehbar. Da bereist eine sonst gern gesehene Touristin auf umweltfreundliche Art das Land und wird bei der Ankunft in Halle tot gefahren. Sie ist tot, weil ein LKW-Fahrer nicht aufgepasst hat, weil diese riesigen Fahrzeuge immer noch nicht so ausgestattet sein müssen, dass die vielen toten Winkel weg sind und Fahrer vor Hindernissen gewarnt werden, weil Halles Radwegenetz auch im Jahr 2019 ein Trauerspiel ist. Bei Schiffen muss in schwierigen Gewässern ein Lotse an Bord, in den Streitkräften dürfen LKW nur mit Beifahrer bewegt werden. Letzteres wäre ein sofort… mehr lesen »