Wissenschaftler ergreifen Partei im OB-Wahlkampf

Im Doppelinterview debattieren ein Politikwissenschaftler und ein Biologe darüber, wer der bessere OB für Halle ist.

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Wissenschaftler kämpfen für OB-Kandidaten: Der Politikwissenschaftler Jhannes Varwick (l.) tritt für Bernd Wiegand ein, Frank Steinheimer (r.) unterstützt Hendrik Lange. (Fotos: Wahlkampfteams Bernd Wiegand/Hendrik Lange; Screenshots und Montage: StäZ)

Halle/StäZ – Alltäglich ist es nicht, aber was ist schon alltäglich in diesem Wahlkampf zur Oberbürgermeisterwahl 2019. Zwei der Favoriten werden in diesem Jahr von gestandenen Wissenschaftlern der Martin-Luther-Universität unterstützt. Mit Herzblut und Verve. Da ist zum einen Politikwissenschaftsprofessor Johannes Varwick. Er tritt in einem Unterstützungsvideo für Oberbürgermeister Bernd Wiegand (Hauptsache Halle) auf und damit für dessen Wiederwahl ein. Für dieses Ziel begibt sich Varwick auch in so manchen Clinch in den Kommentarspalten der sozialen Medien. Auf der anderen Seite steht Frank Steinheimer, nämlich auf der des Herausforderers Hendrik Lange (Linke). Steinheimer wirbt per Internetbanner für den rot-rot-grünen Kandidaten und hat ihn auch bei seinem Stadtspaziergang mit Gregor Gysi begleitet. Der Biologe und Ökologe leitet das Zentralmagazin Naturwissenschaftlicher Sammlungen der MLU. Zwei Wissenschaftler streiten über zwei Kandidaten: StäZ-Redakteur Felix Knothe hat mit den beiden ein Doppelinterview geführt, per E‑Mail.[ds_preview]

„Hendrik Lange ist extrem engagiert.“

Herr Steinheimer, Sie unterstützen zur OB-Wahl Hendrik Lange. Warum?
Steinheimer: Hendrik Lange ist in den wichtigen Bereichen Wissenschaft, Kultur, Bildung und Umweltschutz extrem engagiert und bestens informiert, er lässt sich von Expertinnen und Experten beraten und ist offen für Gespräche und Änderungen. Herr Lange hat an unserer Universität studiert und identifiziert sich mit den Hochschulen der Stadt Halle (Saale). Obwohl er Politiker durch und durch ist, zeigt er dennoch Volksnähe. Seine Qualifikation wird auch durch die Unterstützung von gleich drei Parteien unterstrichen.

„Bernd Wiegand ist ein kantiger Typ.“

Johannes Varwick ist Professor für Politikwissenschaften an der Uni Halle. (Foto: Marlene Gawrich)

Und wie ist es bei Ihnen, Herr Varwick? Sie treten in einem Unterstützervideo von Bernd Wiegand auf. Was macht er aus Ihrer Sicht richtig?
Varwick: Er hat meines Erachtens in den vergangenen Jahren Halle gut vorangebracht, ist ein kantiger und durchsetzungsstarker Typ, und als Mann der Mitte hat er den richtigen politischen Kompass.

Mal den Werbetext beiseite: Herr Steinheimer, Parteien allein machen noch keinen guten OB. Im Gegenteil: Sie sind in der Krise. Und Hendrik Lange ist ein Linker. Wie groß ist sein Rückhalt überhaupt in den Hochschulen?
Steinheimer: Also, ich möchte nicht unterstreichen, dass alle drei unterstützenden Parteien in der Krise sind, zumindest Bündnis 90/Die Grünen entwickeln sich hervorragend. Und ich kann natürlich nur über meine Erfahrungen mit Herrn Lange reden, nicht über die Erfahrungen der Universität als Gesamtes. In Bezug aber auf unsere Ziele, die naturwissenschaftlichen Sammlungen als Forschungsinfrastruktur und Ort des Wissenstransfers zu etablieren, gerade in einer Gesellschaft, die Umweltschutz dringender als je zuvor nötig hat, habe ich von Herrn Lange bedeutend mehr qualifizierte Unterstützung erfahren, als vom derzeitigen OB. Herr Dr. Wiegand entwickelt Ideen, die nicht immer mit allen abgesprochen oder diskutiert werden. Auch Beschlüsse des Stadtrats (dem demokratischen Element in der Stadt) werden oft anders oder zeitverzögert umgesetzt. Das mag kantig sein, aber es entspricht nicht meinen Vorstellungen eines guten OBs.

„Der wirtschaftliche Erfolg Halles hat auch etwas mit dem Oberbürgermeister zu tun.“

Kantig und durchsetzungsstark, andere sagen, Bernd Wiegand sei ein Ego-Typ, der es nicht immer so genau nimmt mit der Transparenz und sich ungern kritischen Fragen stellt. Sie, Herr Varwick, verteidigen ihn. Warum muss ein OB, wie Sie sagen, kantig sein?
Varwick: Kantig ist natürlich kein Selbstzweck. Aber in einem solchen Amt kann man es nunmal nicht jedem recht machen. Allerdings halte ich die Anfeindungen gegen Herrn Wiegand für unbegründet. Das gilt für die Dreckschlacht, die nun Herr Silbersack versucht, und auch für den Kleinkrieg, den der Stadtrat vom Zaun gebrochen hat. In der Aufzählung von Herrn Steinheimer vermisse ich übrigens das Thema Wirtschaft. Wer will denn bestreiten, dass Halle hier zahlreiche Erfolge zu verzeichnen hat – und das hat gewiss auch was mit dem Oberbürgermeister zu tun!

„Herr Lange hat die zukunftsweisenderen Positionen.“

Sie betonen die Wirtschaftskompetenz, Herr Steinheimer die Wissenschaftskompetenz. Auch Sie sagen im Unterstützervideo, sie fänden bei OB Wiegand als Wissenschaftler immer ein offenes Ohr. Was hat der Oberbürgermeister aus Ihrer Sicht für die Uni getan?
Varwick: Jeder OB muss und wird der MLU als wohl wichtigstem Standortfaktor der Stadt zu Recht den roten Teppich ausrollen. Herr Wiegand hat das mehrfach bewiesen, zuletzt bei der Kohlekommission. Sein Ansatz, Politik zu machen ist zudem wissenschaftsnah: nüchtern, ohne Ideologie und bereit, das bessere Argument gelten zu lassen.

Frank Steinheimer ist Leiter des Zentralmagazins Naturwissenschaftlicher Sammlungen der Uni Halle. (Foto: xkn/Archiv)

Steinheimer: Der Linken wird hier per se Wirtschaftskompetenz abgesprochen, aber gerade Herr Lange hat wesentlich klarer erkannt, was für ein enormer Wirtschaftsfaktor die Martin-Luther-Universität und die Kunsthochschule Burg Giebichenstein für Halle sind. Ein roter Teppich fühlt sich zumindest meines Erachtens anders an. Der Einsatz für die Kohlekommission ist aber unbenommen und diese Chance wird von beiden Kandidaten sehr ernst genommen! Das ist gut so.

Welche Herausforderungen müssen Uni und Stadt in den kommenden Jahren aus Ihrer Sicht angehen?
Steinheimer: Die Stadt muss die drei Hochschulen – dazu gehört auch die Evangelische Hochschule für Kirchenmusik – als ihre Kernmarke verstehen, die mit ihrem Wirken weitere Forschungsinstitutionen und Kultur- und Kunstschaffende nach Halle holen und dadurch auch die Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen befördern.

Varwick: Die Uni sollte noch stärker versuchen, bei strategisch wichtigen Themen Lösungsansätze zu finden – von Klimaschutz über nachhaltige Entwicklung bis hin zu künstlicher Intelligenz und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Nach meinem Geschmack sollte sie sich zudem noch stärker als Regionaluni verstehen, die Themen der Region bearbeitet. In meinem Bereich ist das etwa die Landes- und Kommunalpolitik, bei der es bislang an der MLU wenig Expertise gibt. Für die Stadt resultieren daraus Chancen, etwa im Bereich des Kohleausstiegs oder der Ausgründung von Unternehmen. Stadt und Uni eint zudem der Aspekt der Weltoffenheit – und Herr Wiegand steht hier unmissverständlich  auf der richtigen Seite, wie etwa an seinem Engagement gegen die sogenannte „Identitäre Bewegung“ sichtbar.

Steinheimer: Dem kann ich zu 100 Prozent zustimmen! Nur denke ich, dass das auch für Herrn Lange zutrifft. Das macht nicht den Unterschied aus. Was bei Herrn Lange definitiv dazu kommt, ist, die soziale Spaltung unserer Gesellschaft als Thema zu haben. Unsere Universität kann nicht ungestört im Elfenbeinturm forschen, wenn sich die Gesellschaft wegbewegt, unsere Fakten nicht mehr als wissenschaftlich fundiert betrachtet werden und sich viele abgehängt fühlen. Zudem brauchen wir dringend ein riesiges Engagement der Stadt im Bereich Klima- und Umweltschutz. Wir müssen den Nahverkehr ausbauen, kostengünstig oder gar frei zugänglich machen, wir müssen das Fahrrad fördern – Herr Lange radelt alle städtischen Wegstrecken –, wir dürfen nicht mehr zusehen, wie die Landwirtschaft das Grundwasser zerstört und die Biodiversität auslöscht, falsch verstandener Waldbau mit falschen Baumarten und rein wirtschaftlichen Interessen unsere Erholungswälder, Luftfilter und CO2-Senken aufs Spiel setzt. Wir müssen intensiv über Fassadenbegrünung nachdenken und alternative Energiequellen auch im innerstädtischen Bereich nutzen.

Varwick: Diese Liste an Wünschen mag man teilen oder auch nicht und meinetwegen auch noch anderes drauf setzen. Eine wirklich ökologische Stadt halte auch ich für ein Megathema. Fest steht: Wer gezeigt hat, dass er es kann, der sollte auch die Chance haben, neue Herausforderungen entschlossen anzupacken.

Wie ist Ihre Prognose für den Ausgang der Wahl?
Steinheimer: Dr. Wiegand ist gut etabliert und bekannt, Herr Lange hat die zukunftsweisenderen Positionen. Beide sehe ich in der Stichwahl. Es kommt jetzt darauf an, wie stark sich die Wählenden informieren. Eine Stichwahl würde eine noch intensivere Diskussion der Themen der beiden Kandidaten ermöglichen. Mein Wunsch für den 13. Oktober 2019 ist eine hohe Wahlbeteiligung und eine letzte Woche mit einem fairen Wahlkampf.

Varwick: Es wird knapp, und auch ich würde mir in der Stichwahl Lange gegen Wiegand wünschen. Dann gibt es eine echte Richtungsentscheidung!

Vielen Dank Ihnen beiden für das Gespräch.

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Detlef Wend
4 Jahre her

Naja, der gute Professor Warvick hat wohl noch nicht enger mit OB Bernd Wiegand zusammengearbeitet und wahrscheinlich ist er auch noch nicht von Sabine Ernst zusammen gefaltet worden. Daher kann er gewisse Defizite im fairen Umgang in der Stadtverwaltung und auch die dauerhaften Versuche am Stadtrat vorbei zu agieren, beschönigend als „kantig“ bezeichnen. Zur Weitung des Horizontes empfehle ich den Besuch einiger Stadtratssitzungen, bevor es zu leichtfertigen Urteilen kommt. Das ist allerdings – ich muss es gestehen – harter Tobak 😉

Detlef Wend, Stadtrat