„Wir dürfen nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen.“

Die Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion Katja Pähle aus Halle fordert im StäZ-Interview eine langfristige Herangehensweise im Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus.

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SPD-Landtagsfraktionsvorsitzende Katja Pähle im StäZ-Interview in ihrem Büro in Halle. (Foto: xkn)

Halle/StäZ – Am heutigen Mittwoch tritt der Landtag in Magdeburg zu einer Sondersitzung zusammen, um über den Anschlag vom 9. Oktober, seine Ursachen und seine Folgen zu debattieren. Im StäZ-Interview sagt die Fraktionsvorsitzende der SPD Katja Pähle, der Anschlag habe offenbart, dass es im Land beim Kampf gegen rechtsextreme und antisemitische Einstellungen viele Baustellen gebe, die nun angegangen werden müssten. Pähle, deren Partei Teil der Kenia-Koalition ist, trat dabei gegen schnelle Erklärungsmuster und für langfristige Maßnahmen ein, für die Unterstützung jüdischen Lebens, eine Stärkung der politischen Bildung und eine bessere Ausrichtung des Verfassungsschutzes. Die Tat sei nicht die Tat eines Einzelnen. Der Täter habe sich in einem Netzwerk und in einem gesellschaftlichen Umfeld bewegt, das Sorgen bereite. Die Politik dürfe nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Pähle meint im Gespräch mit StäZ-Redakteur Felix Knothe auch, dass die Synagoge in Halle an Jom Kippur hätte geschützt sein müssen, unabhängig davon, ob die jüdische Gemeinde das zuvor gefordert habe oder nicht. Weitere Themen des Gesprächs sind die derzeit laufenden Wahlprozesse der SPD in Land und Bund und die bevorstehende Stichwahl um das OB-Amt in Halle. Hier sieht Pähle im politischen Angebot von Hendrik Lange (Linke) auch Schnittmengen für liberale und konservative Wähler, auf die es in der Stichwahl am kommenden Sonntag mit ankommen dürfte.[ds_preview]

Frau Pähle, in Halle kann wohl jeder eine Geschichte zum 9. Oktober erzählen. Wo waren Sie an dem Tag, und wie haben sie von dem Ereignis erfahren?
Pähle: Ich war mit meiner Familie in den Herbstferien und habe davon über die sozialen Medien erfahren. Freunde haben etwas gepostet, schnell tauchten Fotos auf. Das war ein sehr beklemmendes Gefühl, in diesem Kontext Ecken der Stadt zu sehen, wo Menschen wohnen, die man selbst kennt. Wir haben dann versucht, Menschen anzurufen, um zu erfahren, ob alles okay ist. Das macht etwas mit einem.

„Vereinzelung ist nicht mehr nur ein Phänomen der Städte.“

Welche Auswirkungen hat der Anschlag aus Ihrer Sicht auf die Stadt?
Pähle: Die Hallenserinnen und Hallenser haben sehr bedächtig auf den Anschlag reagiert. Ihnen war klar, dass das ein außergewöhnliches Ereignis ist. Die vielen Reaktionen und Veranstaltungen danach haben gezeigt, dass viele Hallenserinnen und Hallenser bereit sind zu sagen: „Ihr, die Ihr hier Hass und Hetze verbreitet, Ihr kriegt diese Stadt nicht!“ Das hat mir persönlich gut getan.

Was sagen Sie zur Tat selbst? Wie beurteilen Sie die Ursachen mit ein paar Tagen Abstand?
Pähle: Schnelle Antworten und Reaktionen sind hier fehl am Platz. Man neigt dann nämlich zu Vereinfachungen, die der Sache nicht gerecht werden. Zum Beispiel diese Diskussion um den „Einzeltäter“: Der Mann war alleine unterwegs, aber er war kein Einzeltäter, weil er sich anscheinend in einem Netzwerk bewegt hat, das solche Taten befördert hat. Wer im Netz auch nur eine anerkennende Diskussion um solche Taten führt, macht das Undenkbare denkbar. Diese Strukturen muss man mehr in den Blick nehmen. Die Begleitumstände der Tat sagen mir aber noch zwei andere Dinge: Wie wir jetzt wissen, kam der Täter aus Benndorf. Ich komme selbst aus dem Mansfelder Land. Von der Größe her ist das ein Ort, wo man eigentlich weiß, wann sprichwörtlich der Hund vom Nachbarn bellt. Dass in so einer Struktur jemand lebt, der nicht gekannt wird – egal was der dann tut – sagt mir, dass Vereinzelung nicht mehr nur ein Phänomen der größeren Städte ist. Wenn Menschen nicht mehr wissen, wer ihre Nachbarn sind und wie es ihnen geht, muss uns das Sorge machen. Sicherlich wird man nie wissen, was jemand im Internet treibt und auf welchen Foren er unterwegs ist. Darum geht es nicht. Aber Sorge füreinander tragen und hinzuschauen, das muss man hinbekommen, egal ob es in Halle oder in Benndorf ist.

Und ihre zweite Beobachtung?
Pähle: Mich haben die Äußerungen der Mutter irritiert, die, nach dem offen antisemitischen Hintergrund der Tat gefragt, ihren Sohn mit ebenfalls antisemitischen Einschätzungen in Schutz genommen hat. Wenn man als Ethiklehrerin in einer Grundschule sich so äußert, dann haben wir hier ein gesellschaftliches Problem. Dann sind solche Denkmuster – dass die Juden im Hintergrund die Strippen ziehen und das Geld haben – viel zu sehr in der Gesellschaft angekommen. Darüber müssen wir reden. Und wir müssen wegkommen von der Vorstellung, dass nur ein Einzelner so gehandelt hat. Wir haben Baustellen, die viel, viel größer sind, und die wir angehen müssen.

Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand hatte sich zunächst ja so geäußert, dass das „System der offenen Gesellschaft“ eine Schuld trage, und weniger die Behörden. Wir alle hätten den Täter bemerken müssen. Inzwischen ist er etwas zurückgerudert. Auch sie sagen, man müsse stärker aufeinander achten.
Pähle: Die Äußerung, die offene Gesellschaft habe versagt, ist strange. Denn darum geht es überhaupt nicht in dieser Debatte. Wir haben eine unglaublich differenzierte und offene Gesellschaft. Mit geht es darum, aufeinander achtzugeben. Wer offen ist und Vielfalt schätzt, kann trotzdem oder gerade deshalb hinschauen, wer nebenan wohnt und wie es ihm geht. Wenn eine Rentnerin wochenlang nicht mehr gesehen wird und niemand nachfragt, dann achten wir zu wenig aufeinander. Das ist aber ein Unterschied zu der Aussage, die offene Gesellschaft habe versagt. In diesen Tenor möchte ich überhaupt nicht einstimmen.

Im politischen Raum wird es natürlich nun auch um die Aufarbeitung gehen, also um Fragen: Was hätte man verhindern können? Was ist schiefgelaufen? Wer trägt Verantwortung? Wie ist ihre Sicht auf diese Debatte?
Pähle: Schuld ist eine schwierige Kategorie, und man muss viele Dinge voneinander trennen. Klar ist, dass wir nicht nachlassen dürfen, rechtsextremen, antisemitischen, islam- und migrationsfeindlichen Äußerungen etwas entgegen zu setzen. Wir müssen mehr tun für politische und für religionssensible Bildung. Da haben wir schon viel getan, aber anscheinend ist es nicht ausreichend. Wir müssen auch fragen, ob der Verfassungsschutz ausreichend aufgestellt ist. Das gilt insbesondere für den Bereich der Prävention und der Verbrechensbekämpfung im Internet mit seinen vielen Möglichkeiten. Und wir müssen uns um das Phänomen des ungehemmten Teilens von Videos kümmern. Das Tätervideo ist auf Schulhöfen und in tausenden Whatsapp-Gruppen geteilt worden. Das haben viele Kinder gesehen. Das ist entsetzlich. Da müssen wir die Anstrengungen dringend verstärken.

„Natürlich kann man die Frage stellen, ob das Land genug getan hat.“

Ist der Kampf gegen Rechtsextremismus zu naiv angegangen worden?
Pähle: Wir haben verstärkte rechtsradikale Aktivitäten. Die Tendenzen waren über Jahre erkennbar. Und trotzdem sind Warnungen überhört worden, und wir haben nicht erreicht, dass die Anstrengungen schon vor dem 9. Oktober verstärkt wurden. Natürlich kann man da die Frage stellen, ob das Land im Ergebnis genug getan hat. Wir mussten ringen um die Programme für Demokratie und Weltoffenheit. Das war immer ein harter Kampf. Bei der letzten Haushaltsberatung gab es massiven Streit um die Finanzierung des Vereins Miteinander, die von der CDU in Frage gestellt wurde. Wir haben es dann noch hinbekommen. Aber dieser Streit in der Politik war da, und das bei diesem wichtigen Thema. Erst der 9. Oktober hat nun hoffentlich allen klargemacht, dass wir an der Stelle mehr machen und auf keinen Fall nachlassen müssen.

Was fordern Sie als SPD-Fraktion?
Pähle: Als SPD-Fraktion haben wir fünf Punkte aufgeschrieben, die in den Fokus rücken müssen. Wir wollen mehr Prävention. Und wir wollen die Leuchttürme jüdischen Lebens unterstützen, zum Beispiel fördern wir die Akademie der Moses Mendelssohn Stiftung oder den Neubau der Synagoge in Magdeburg. Solche Signale braucht es jetzt, um klarzumachen: Der jüdische Glaube gehört zu Deutschland. Jüdinnen und Juden sollen sich sicher sein, ihre Religion hier auch ausüben zu können. Das kann man nicht nur mit mehr Sicherheit und mehr Polizei leisten, sondern man muss auch etwas tun für mehr Aufklärung und Akzeptanz.

Hätte die Synagoge an Jom Kippur geschützt werden müssen?
Pähle: Es ist ungewöhnlich, dass an einem so hohen Feiertag kein Schutz da war. Für mich ist auch nicht die Frage, ob die jüdische Gemeinde tatsächlich um Schutz gebeten hat oder nicht. Wenn es in der Mehrzahl der anderen Bundesländer der Normalfall ist, dass an hohen jüdischen Feiertagen einfach aus Abschreckungsgründen Polizei vor der Tür steht, dann hätte es auch hier der Fall sein müssen.

Gibt es schon konkrete Vorschläge für bessere Prävention?
Pähle: Wir haben ein gutes Landesprogramm für Demokratie und Weltoffenheit. Nun muss man sehen, wie man die Schwerpunkte dieses Programms weiter gestaltet, ob dort noch etwas fehlt oder stärkeres Gewicht bekommen muss. Das wird uns auch in den Haushaltsberatungen beschäftigen. Auch die Arbeit der Landeszentrale für politische Bildung muss gestärkt werden, um Aufklärungsarbeit und Wissensvermittlung zu Themen wie Antisemitismus besser leisten zu können. Und wir müssen noch stärker die Ideen, die es in der Zivilgesellschaft gibt, berücksichtigen.

„Die AfD ist mitverantwortlich.“

Muss man nicht auch an die Lehrpläne in den Schulen ran? Das Fach Sozialkunde kann zum Beispiel in der Oberstufe einfach abgewählt werden.
Pähle: Die Diskussion um den Stellenwert der politischen Bildung in der Schule wird zu Recht geführt. Ich bin eine Verfechterin von mehr politischer Bildung. Es gibt aber genauso berechtigte Mahnungen, dass dann etwas anderes aus dem Fächerkanon herausfallen müsste. Über das Thema müssen wir also sehr intensiv miteinander sprechen. Wir brauchen politische Bildung von Anfang an, nicht erst ab der 5. oder 7. Klasse. Demokratieerziehung fängt in der 1. Klasse an. Das muss ein Prozess vom ersten Schultag bis zum Schulabschluss sein.

Was lässt Sie hoffen, dass die Politik nicht allzu bald einfach wieder zur Tagesordnung übergeht?
Pähle: Das dürfen wir nicht. Auch deswegen bin ich gegen zu schnelle Antworten. Der 9. Oktober und seine Ursachen werden sich nicht mit einer schnellen Antwort erledigen. Wir müssen intensiv diskutieren, an welchen Stellen etwas geändert werden muss.

Ist die AfD mitverantwortlich für den 9. Oktober, wie es von vielen gesehen wird?
Pähle: Ja, die AfD ist mitverantwortlich. Die Art und Weise, wie die AfD komplexe politische Zusammenhänge vereinfacht, wie sie ständig klare Schuldzuweisungen formuliert, wie sie die Unterscheidung zwischen „Wir“ und „Die“ fördert und damit das gesellschaftliche Klima verändert, ist mitverantwortlich für den 9. Oktober. Insbesondere in Halle ist die AfD eine Scharfmacherpartei. Hier gibt es ein Stadtratsmitglied, das bei den rechtsextremen Montagsdemos mitmischt. Was da gesprochen wird, wissen wir. Wenn diese Menschen dann nach dem Anschlag heuchlerisch und scheinheilig bei der Synagoge Blumen niederlegen und sich gegen Antisemitismus aussprechen, bin ich wirklich fassungslos. Man muss die rechtsextremen Tendenzen in der AfD immer wieder klar benennen und den Menschen klar machen, dass die AfD auf dieser Welle reitet. Sie verbreitet Ressentiments, die dann – wie am 9. Oktober – möglicherweise Menschen dazu beflügeln, solche Taten zu verüben. Ich will nicht sagen, dass es einen direkten Zusammenhang gibt, aber es gibt einen geistigen Zusammenhang.

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