Halle/StäZ – „Agonia“ – die Agonie, die Qual, der Kampf. So heißt eine CD, die die evangelisch-reformierte Domgemeinde zu Halle 2016 herausgebracht hat. Man hört dort die große Orgel des ältesten der althalleschen Gotteshäuser mit ihren letzten Tönen. Es ist ein schräges Tondokument. Man hört das Keuchen der Luft in den morschen, vom Holzwurm zerfressenen Windkanälen, man hört verstimmte Pfeifen. Fast eine halbe Stunde lang mühte sich damals Domorganist Gerhard Noetzel, dem Instrument, dem schon zwei Drittel seiner Register abhanden gekommen waren, noch Musik zu entlocken. Dann ist Stille. Es sind die letzten öffentlichen Töne der Wäldner-Orgel von 1851. Seit einem Jahr nun wird sie nicht nur generalüberholt. Sie wird, nach vielen Schäden und aus Sicht der heutigen Verantwortlichen auch nach musikalischem Missbrauch, in den einstigen Originalzustand zurückversetzt. Es ist ein orgelbauerisches Mammutprojekt von tausenden Arbeitsstunden. Es ist die Wiedergeburt einer Orgel. Und passend dazu soll es der kommende Heilige Abend sein, an dem die Domorgel wieder erklingen soll.[ds_preview]
Gerhard Noetzel holt an diesem Vormittag Anfang Oktober den großen Schlüssel und schließt den Dom auf für einen kleinen Rundgang, der bis ins Herz dieses Instruments führen wird. Noetzel ist der Kirchenmusiker der Domgemeinde, ein Mann Mitte Dreißig, der wie ein Buch über Orgeln und ganz besonders über die Wäldner-Orgel des Doms erzählen kann. Die Treppe zur Empore hinauf, und schon steht man auf der Orgelbaustelle. Noch sind nur wenige neue Pfeifen an ihrem Platz. Einige Holzpfeifen liegen gestapelt vor einer Holzbank. Auf der Südempore gegenüber liegen einige der alten, ausgebauten Metallpfeifen. In einer Ecke ist die Werkstatt der Orgelbauer eingerichtet. Vom Organistenpult in der Mitte des Instruments ist nichts zu sehen. Die beiden Manuale, also die Klaviaturen, fehlen. An ihrer Stelle klafft eine leere Öffnung, die den Blick ins Innere der Orgel freigibt. Drei einzelne Registerknäufe erinnern an die Mechanik, die normalerweise ganze Pfeifenbatterien zum Spiel freigibt oder eben vom Luftstrom der Orgel abschirmt. Der Rest der Knäufe fehlt. Bald jedoch sollen hier wieder alle Register gezogen werden.
Der ruhigste Ort in einer Kirche ist die Orgel
Die Firma, die dafür sorgt, ist die Dresdner Orgelwerkstatt Kristian Wegscheider, und der Mann der Firma Wegscheider an diesem Tag in Halle ist Michael Wetzel. Er war schon 2004 in Halle, als es um die Bestandsaufnahme an der Wäldner-Orgel ging. Seit 2002 trägt sich die Gemeinde mit dem konkreten Gedanken der Restaurierung. Seitdem sammelt sie Geld, 15 Jahre lang. Am Ende wird die gesamte Restaurierung der Orgel rund 600.000 Euro kosten, gestemmt aus Eigenmitteln und mit einer 260.000-Euro-Förderung des Bundes aus dem Programm zur Sanierung national bedeutsamer Orgeln. Weitere Förderer sind der evangelische Kirchenkreis Halle-Saalkreis, die Landeskriche und die Saalesparkasse. Noetzel würdigt auch das langjährige Engagement des früheren Bundestagsabgeordneten Christoph Bergner (CDU), der sich sehr für die Bundesförderung stark gemacht habe. „Wir haben Schwein gehabt“, so Noetzel mit Blick auf die Förderung.
Aber zurück zu Michael Wetzel, einem bedächtigen Mann im burgundroten Pullover. Es ist ein bisschen Zufall, dass ausgerechnet er an diesem Tag in Halle ist. Er ist nicht der einzige Mitarbeiter der Firma Wegscheider, der mit der Wäldner-Orgel beschäftigt ist, und die Wäldner-Orgel ist auch nicht seine einzige Baustelle. Aber er war, deswegen der Zufall, auch schon 2004 vor Ort und kennt den alten Zustand, kennt die Agonie. „Das Instrument war in sehr schlechtem Zustand“, beschreibt er. „Vögel waren in die Kirche gelangt und hatten sich dann an den ruhigsten Ort zurückgezogen. Und der ruhigste Ort in einer Kirche ist die Orgel“, sagt Wetzel. Überall zwischen den Orgelpfeifen hätten verendete Tiere gelegen. „Aus manchen Pfeifen schauten Taubenfedern heraus.“
Kleinste Pfeife ist sechs Millimeter groß
Die Vögel hatten der Orgel seinerzeit den letzten Rest gegeben. Bereits in den Jahrzehnten zuvor war an ihr immer wieder herumoperiert worden. O tempora, o mores. Im Ersten Weltkrieg mussten die Metallpfeifen für den Krieg abgeliefert werden, wie in ganz Deutschland. Sie wurden später durch Pfeifen minderer Qualität ersetzt. „Seit 1911 hat die Orgel außerdem mehrere Umbauten erfahren, weil sie dem Zeitgeist der damaligen Organisten angepasst werden sollte“, erklärt Gerhard Noetzel. „Die im Sinne der Romantik des 19. Jahrhunderts konzipierte Orgel bekam dadurch Klangfarben, die sich eher am Barock orientierten. Das war in der Moderne des 20. Jahrhunderts Mode: Ziel war es, sinfonischer zu klingen. Der Wäldner-Orgel ist es aber nicht bekommen. Ihr früher warmes Klangbild ging dadurch verloren“, so Noetzel. Verheerend war auch 1954 der Absturz einer Gewölberippe in die Orgel hinein, der erheblichen Schaden anrichtete. Bereits zuvor hatte im eisigen Winter von 1946 jemand ein ganzes Pedalregister ausgebaut und einfach verheizt. Harte Zeiten.
So blieb eine verkrüppelte Orgel zurück, doch Orgelbauer Michael Wetzel glaubt an sie. „Das Potenzial der Orgel war immer zu erkennen“, sagt er. Zum Beispiel dieses 1946 verheizte Register: Sie werden es wiederherstellen. Es sind die tiefsten Pedalpfeifen, die seit über 70 Jahren fehlen. Die allertiefste ist eine über fünf Meter lange Holzpfeife. Pedal, Untersatz, 32 Fuß, heißt das im Orgeljargon. Der Ton, den sie erzeugt, das Subkontra‑C, ist eigentlich schon fast gar kein Ton mehr. Die Luft schwingt mit 16 Herz, also 16 Schwingungen pro Sekunde. Das ist praktisch Infraschall, ein Ton so tief, dass ihn nur die wenigsten Menschen wirklich hören können. „Wenn man aber unten im Holzgestühl sitzt“, beschreibt Michael Wetzel die Wirkung, „dann spürt man diesen Ton. Dann vibriert es, und man erfährt die Orgel quasi körperlich, und der Klang aller anderen Pfeifen, der darauf aufbaut, bekommt ein kräftiges Fundament.“ Alle anderen Pfeifen: Das sind über 1500, verteilt über 33 Register. Die kleinste ist gerade einmal sechs Millimeter groß, ein Viertelfuß‑F.